Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
20. August 1995

Die Katholizität der Kirche

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die katholische Kirche hat vier Wesensmerkmale. Sie ist einig, sie ist heilig, sie ist katholisch und apostolisch. An den vergangenen Sonntagen haben wir die beiden ersten Wesensmerkmale betrachtet, die Einheit und die Heiligkeit. Wir wenden und heute der Katholizität zu.

Was heißt es, wenn wir sagen, unsere Kirche ist katholisch? Das Wort katholisch kommt aus dem Griechischen und ist zusammengesetzt aus den beiden Worten kat holon. Das bedeutet soviel wie allgemein, universell, insgesamt. Mit dem Wort katholisch soll also die Universalität der Kirche ausgedrückt werden. Vor einiger Zeit fragte mich ein Herr: „Seit wann gibt es das Wort katholisch?“ Das Wort katholisch gibt es seit dem 1. Jahrhundert. Es wird zum erstenmal gebraucht von dem Bischof von Antiochien namens Ignatius. Er verwendet für uns nachweisbar als erster das Wort katholisch. Wo Jesus Christus ist, sagt er, da ist die katholische Kirche. Seitdem ist dieser Wort ein Begriff, um die Universalität unserer Kirche zu bezeichnen. Wir unterscheiden eine äußere und eine innere Katholizität. Die äußere Katholizität ist eine solche des Raumes und der Zeit, die innere Katholizität ist eine solche der Wahrheit und der Heilsgüter.

Erstens also die äußere Katholizität. Sie ist eine solche des Raumes. Das will besagen, die Kirche ist nicht eingeschränkt auf ein bestimmtes Gebiet, sie ist nicht partikularistisch verengt. Es kann und darf keine Nationalkirche geben, sondern die Kirche überschreitet jedes Volk und jede Nation. Sie ist jeder Kultur und jedem politischen System angepaßt. Die Kirche ist universell. Das Wort katholisch im Sinne der räumlichen Katholizität besagt nicht zuerst, daß die Kirche auch überall anwesend sein muß. Die Kirche war schon katholisch, als sich ihre Anhänger nur in dem Obergemach in Jerusalem versammeln konnten. Auch damals besaß sie schon die Eigenschaft der Katholizität. Daraus ersieht man, daß die räumliche Katholizität noch etwas anderes bedeutet als auf allen Erdteilen, in jedem Lande gegenwärtig. Die äußere Katholizität bedeutet nämlich zunächst einmal: Für alle Völker bestimmt, zu allen Völkern gesandt, für jedes Volk geeignet. Die katholische Kirche ist, weil sie von Gott, dem Allherrscher, kommt, für alle Menschen bestimmt. Alle sollen sich in ihr versammeln. Nur so kann sie ihrem göttlichen Auftrag, ihrer göttlichen Potenz, ihrer göttlichen Expansionskraft gerecht werden. Sie ist also nicht deswegen katholisch, weil sie (schon) überall vertreten ist oder weil sie mehr Anhänger besitzt als andere. Die Zahl ist nicht entscheidend. Auch der Bolschewismus hat viele Anhänger zumindest besessen, und auch der Mohammedanismus besitzt Hunderte von Millionen von Anhängern. Daran liegt es nicht. Wenn sich die Kirche nur durch die Zahl der Anhänger auszeichnete, wäre sie nur gradweise von den anderen Religionsgemeinschaften unterschieden. Sie ist aber qualitativ unterschieden; sie stammt von oben, die anderen Religionen stammen von unten. Sie ist eine göttliche Stiftung, die anderen sind von Menschen erfunden. Also nicht die Zahl, nicht die hohe Zahl macht die räumliche Katholizität der Kirche aus, sondern ihre Bestimmung, ihre Zuordnung zu allen Völkern und Nationen. Sie nimmt keinem Volk etwas, sondern sie führt ein jedes Volk zur Erfüllung seines eigenen Wesens. Sie braucht die Menschen nicht zu veranlassen, ihre Individualität oder ihre Volkszugehörigkeit aufzugeben. Nein, jeder, jedes Individuum und jedes Volk gewinnt durch die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche das wahre Selbst, weil nämlich ein jeder und ein jedes Volk befreit werden von den Mächten der Selbstsucht und des Hochmuts und der Triebhaftigkeit.

Natürlich soll die Kirche auch möglichst ihre Expansionskraft realisieren. Natürlich soll sie bis an die Grenzen der Erde gelangen. Natürlich soll sie alle Menschen in sich vereinen und sie gewinnen. Denn damit verwirklicht sie eben das, wozu sie angelegt ist. Aber noch einmal: Die Kirche war katholisch auch schon in Jerusalem. Sie war katholisch, als Hieronymus seufzte, der Erdkreis sei arianisch geworden. Und sie wird katholisch sein, wenn sich die Prophezeiung der Johannes-Apokalypse erfüllen wird, daß nämlich nur ein Häuflein von Standhaften und Getreuen übrig sein wird, wenn der Herr kommt.

Die Kirche ist katholisch, was den Raum betrifft, aber auch, was die Zeit angeht. Sie ist allen Zeiten gegenwärtig. Sie überdauert alle Zeiten. Sie ist nicht für eine bestimmte Zeit geeignet und für eine andere ungeeignet. Sie wird niemals abgelöst werden durch eine andere Kirche. Das war der Irrtum des Joachim von Fiore, daß er meinte, nach der Kirche Jesu komme eine Kirche des Heiligen Geistes. Diesen Irrtum hat die Kirche abgewiesen. Die Kirche, wie sie von Christus geschaffen ist, ist jeder Zeit gegenwärtig. Andere Gemeinschaften und andere Verbände haben ihre Zeit, die Kirche hat immer ihre Zeit. Sie wird auch nicht überholt werden durch den irdischen Fortschritt. Voltaire und der Bolschewismus meinten, durch die Veränderung der Kultur oder der Produktionsmittel werde die Kirche überflüssig werden, der Fortschritt werde sie unnötig machen. Das ist deswegen unmöglich, weil die Kirche gar nicht auf den irdischen Fortschritt zielt; sie kann deswegen auch nicht durch den irdischen Fortschritt ersetzt werden. Die Kirche ist in jeder Zeit und gleichzeitig über jede Zeit erhaben. Sie ist immer aktuell, sie ist niemals überholt, sie ist niemals veraltet. Sie ist immer und jederzeit höchst notwendig und gegenwärtig.

Das also, meine lieben Freunde, ist die äußere Katholizität. Sie ist eine solche des Raumes und der Zeit. Dazu tritt zweitens die innere Katholizität. Sie ist eine solche der Wahrheit und der Heilsgüter. Die Kirche besitzt die ganze Wahrheit. Diese Wahrheit ist ihr im Laufe der Jahrhunderte immer deutlicher aufgegangen. Der Herr hat ihr das ganze Offenbarungsgut anvertraut, aber sie ist in sukzessiver Weise in die Fülle dieses Offenbarungsgutes eingedrungen. In liebevoller Versenkung, durch das Nachdenken der gläubigen Theologen, durch die Praxis des Volkes ist die Kirche immer tiefer hineingewachsen, hat sie die Offenbarungswahrheit immer deutlicher erkannt. Sie hat, von Christus veranlaßt, durch den Heiligen Geist eine Urkunde ihrer Gründung erhalten, die Heilige Schrift. Diese Heilige Schrift ist unüberholbar. Aber vieles ist in der Heiligen Schrift nur eingewickelt, unentfaltet enthalten. Es muß also entfaltet werden. Und diese Arbeit leistet seit zweitausend Jahren der Heilige Geist. Ihn hat Christus verheißen mit der Ankündigung: „Er wird euch in alle Wahrheit einführen.“ Diese Arbeit des Geistes ist bis heute nicht beendet. Sie geschieht immer weiter bis zum letzten Tage des Bestehens der Kirche. Die Frucht dieser Arbeit sind die Dogmatisierungen. In den Dogmatisierungen verfügt die Kirche nicht bloß einen bestimmten Sprachgebrauch, damit eben die Menschen äußerlich einig seien. Nein, in den Dogmatisierungen bindet sie sich an die Vergangenheit, nämlich an die Offenbarung, und durch die Macht und Kraft des Heiligen Geistes findet sie Formulierungen, welche die Wahrheit in einer angemessenen Weise aussprechen. Die Dogmen verkünden also nichts Neues; sie verkünden das Alte, das aber bisher nur eingewickelt, unentfaltet in der Offenbarung lag. Dogmen sind Produkte des Heiligen Geistes, der die Kirche in alle Wahrheit einführt.

Ähnlich ist es mit den Heilsgütern. Christus hat der Kirche alle Heilsgüter übergeben, also vor allem den Gottesdienst und die Sakramente. Aber diese Heilsgüter bergen eine solche Fülle in sich, daß sie erst im Laufe der Zeit der Kirche aufgegangen ist. Erst im 13. Jahrhundert wurde das Fronleichnamsfest eingesetzt. Das Fronleichnamsfest hat zum Inhalt die Anbetung des eucharistischen Opfersakramentes. Die Kirche wußte immer, daß der Herr im heiligen Sakrament gegenwärtig ist. Die Folgerungen, die daraus zu ziehen sind, treten erst im Laufe der Zeit hervor. Wenn er gegenwärtig ist, dann nicht nur im Augenblick des Genusses, wie Luther meinte, sondern dann ist er auch vor dem Genuß und nach dem Genuß gegenwärtig. Und wenn er gegenwärtig ist, kann man ihn auch verehren und anbeten. Also hat die Kirche die Anbetung des Allerheiligsten eingeführt, hat sie die Prozessionen mit dem heiligsten Sakrament geschaffen, hat sie die heilige Stunde am Donnerstag begründet.

Ähnlich ist es mit anderen Frömmigkeitsübungen des gläubigen Volkes. Die Herz-Jesu-Verehrung ist nicht von Anfang an in der Kirche gewesen. Aber indem sich die Kirche in das Innere unseres Heilandes versenkte, indem sie erkannte, daß sein menschliches Herz hypostatisch vereint ist mit der Gottheit, hat sie die Anbetungswürdigkeit dieses Herzens erkannt. Und so hat sie zu gegebener Stunde die Herz-Jesu-Verehrung eingeführt. In der Kirche ist die ganze Fülle der Heilsgüter vorhanden. Sie hat niemals geduldet, daß etwas von diesen Heilsgütern ihr entzogen wird. Sie hat den Ablaß verteidigt, als Männer aufstanden und gegen den Ablaß wüteten. Der Ablaß ist eine legitime Frucht am Baume des kirchlichen Bußwesens. Er ist ein Geschenk, das Gott seiner Kirche gemacht hat, damit sie dem büßenden Sünder zu Hilfe kommt, indem sie ihm durch die Genugtuung Christi und seiner Heiligen einen Nachlaß zeitlicher Sündenstrafen gewährt.

Die innere Katholizität der Kirche muß immer wieder neu erkämpft werden. Es treten immer wieder Menschen auf, die sagen: Man muß die Kirche der Urzeit wiederherstellen, oder: Man darf nicht weitergehen in der kirchlichen Entwicklung als bis zum 4. oder 5. Jahrhundert. Es ist ganz falsch, die Kirche an den Anfang zurückzuführen; es ist nicht nur falsch, es ist auch unmöglich, denn die Kirche hat das Gesetz der Entwicklung und der Entfaltung eingestaltet bekommen. Sie würde sich gegen ihr eigenes Wesen verfehlen, wenn sie versuchen würde, zum Anfang zurückzukehren. Genauso wie es einem Menschen, der erwachsen ist, unmöglich ist, in seine Kindheit zurückzugehen, so ist es der Kirche unmöglich und verwehrt, in ihre Anfangszeit zurückzugehen. Die Kirche hat eine gottgelenkte Entwicklung genommen, und der heutige Stand ist nach Gottes Willen der ihr angemessene. Man kann nicht gegen das 20. Jahrhundert das 4. oder 5. oder gar das 1. und 2. Jahrhundert ausspielen. Jede Zeit der Kirche ist unmittelbar zu Gott.

Das also, meine lieben Freunde, ist die innere Katholizität. Sie ist eine solche der Fülle der Heilswahrheit, die in der Kirche gegenwärtig ist; sie ist eine solche der Fülle der Heilsgüter, die in der Kirche den Gläubigen bereitliegen. Da sehen wir auch unsere Aufgabe. Wenn wir wirklich katholisch sein wollen, müssen wir an der äußeren und inneren Katholizität der Kirche zu unserem Teil mitwirken. Wir wirken an der äußeren Katholizität mit, wenn wir bestrebt sind, die Kirche zum hell leuchtenden Zeichen auf dem Berge zu machen, wenn wir uns bemühen, die Menschen zu unserer Kirche einzuladen und in ihr zu beheimaten. „Alle Menschen dieser Erden sollen Gotteskinder werden“, und zwar in der heiligen katholischen Kirche. Gleichzeitig sollen wir uns bemühen, die innere Katholizität zu verwirklichen, also nicht religiös gleichsam auf Sparflamme kochen, nicht sagen: Mir genügt Christus, und sonst benötige ich nichts. Christus genügt, aber Christus will, daß alles, was er an Wahrheit und an Heilsgütern den Menschen bereitet hat, aufgenommen wird. Er steht hinter diesen Entwicklungen, die ich eben ansatzweise gekennzeichnet habe. Wir sollen die ganze Fülle der Wahrheit in unserem Leben verwirklichen, und wir sollen von allen Heilsgütern Gebrauch machen. Also nicht das Bußsakrament aus der Praxis der Frömmigkeit ausscheiden, nicht die Verehrung des Allerheiligsten aus dem Bereich des kirchlichen Lebens verdrängen, nicht die Gewinnung des Ablasses als überholt darstellen, sondern die ganze Fülle der Heilsgüter in unserem eigenen Leben verwirklichen. Wenn wir das tun, dann erst sind wir wahrhaft katholisch.

Amen.

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