Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
22. August 1993

Die unerforschlichen Ratschlüsse Gottes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Auf Todesanzeigen kann man manchmal die Worte lesen: „Nach unerforschlichem Ratschluß hat Gott meinen Mann – meine Frau – mein Kind abberufen.“ Nach Gottes unerforschlichem Ratschluß! Daß die Ratschlüsse Gottes unerforschlich sind, das will besagen: Wir können sie nicht im voraus bestimmen, und wenn sie geschehen sind, vermögen wir sie nicht in einer letzten Weise zu durchdringen. Gottes Plan bleibt häufig unbegreiflich. Unser Raten und Forschen, unser Mühen und Grübeln kommt nicht zum Ziel. Nach Gottes unerforschlichem Ratschluß werden unsere Wege gelenkt.

Diese Wahrheit von dem unerforschlichen Gott wollen wir heute vor unserem Auge vorüberziehen lassen, indem wir 6 Sätze darüber aufstellen.

Erstens: Gott hat seinen Plan mit den Menschen, und er weiß ihn zu erreichen. Es ist also nicht so, wie manche behaupten, daß ein augenloses Fatum, ein blindes Schicksal die Geschicke der Menschen bestimmt. Nein, Gott hat einen Plan, und diesen Plan vermag er durchzuführen. Dieser Plan kann nicht durchkreuzt werden. Ob der Mensch will oder nicht, Gott kommt zum Ziel! Gott weiß auch das Widerstreben gegen seinen Willen in seinen Plan einzubauen. Seine Allmacht und seine Allweisheit garantieren, daß der Plan, den er entworfen hat, der rechte ist und daß er zum Ziele führt.

Wir Menschen freilich sind häufig ganz anderer Meinung. Wir sind der Ansicht, daß unser Wille geschehen soll, und der ist eben oft anders als Gottes Wege. Gestern feierten wir das Fest der heiligen Johanna Franziska von Chantal. Sie war mit einem adeligen Manne verheiratet, und dieser adelige Mann ging auf die Jagd. Bei der Jagd wurde er von einem Jagdfreund schwer verwundet. Man brachte ihn auf einer Tragbahre nach Hause. Die Gräfin war außer sich. Wie eine Wahnsinnige raste sie durch das Haus und flehte die Ärzte an: „Mein Mann darf nicht sterben! Er muß gesund werden!“ Und heiße Gebete stiegen zu Gott empor. Die Ärzte wagten nicht einmal, die Kugel herauszuziehen aus Furcht, sie könnten sein Leben verkürzen. Aber der Mann starb, und die Gebete der Gräfin wurden nicht so erhört, wie sie sich das vorgestellt hatte. Die Wege Gottes waren andere. Aber auf diesen Wegen wurde sie die heilige Johanna Franziska von Chantal, die einen Orden gründete und Segen über eine ganze Landschaft brachte.

Zweitens: Die Wege Gottes sind anders als wir es uns denken. In der heiligen Schrift wird diese Andersartigkeit angedeutet. An einer Stelle heißt es: „Meine Wege sind nicht euere Wege, und meine Gedanken sind nicht euere Gedanken. So hoch der Himmel erhaben ist über die Erde, so viel höher sind meine Wege über euere Wege und meine Gedanken über euere Gedanken.“

Gott sieht weiter als die Menschen. Sie sind kurzsichtig. Gott sieht in die Ferne. Die Menschen schauen auf das, was in der Tiefe ist, Gott sieht auf das, was in der Höhe ist. Seine Wege haben eine innere Qualität, wie sie die Wünsche und die Pläne der Menschen überhaupt nicht haben können. Auch was uns am wehesten tut, Prüfungen, Leiden, Schmerzen, Verluste, Enttäuschungen, Bitterkeiten, auch das ist nach Gottes Plänen ein Weg, der uns zum Heil führen soll.

Es hat einmal ein Kirchenmaler eine Wand in einem Gotteshaus ausgemalt, und er stand auf einem Gerüst und schaute prüfend auf sein Werk. Er ging einen Schritt nach dem anderen zurück. Nur noch einen kurzen Schritt, und er wäre rücklings abgestürzt. Sein Gehilfe sah diese Gefahr, und was tat er? Anrufen hätte keinen Erfolg gehabt. Er nahm einen Pinsel und warf ihn mitten in das Gemälde. Der Maler, voll Zorn, stürzte auf ihn zu, aber er war gerettet.

Ähnlich-unähnlich, meine lieben Freunde, ist es mit den Wegen Gottes. Sie sind anders, als wir sie uns denken. Der Mensch denkt und Gott lenkt – oder wie manche sagen: „Der Mensch dachte und Gott lachte!“ Die Wege Gottes sind anders, aber sie führen uns mit Sicherheit zum Heil.

Der dritte Satz lautet: Je glänzender das verheißene Licht ist, um so dunkler sind die Wege, die Gott uns auf Erden führt. Es muß offenbar ein Ausgleich sein zwischen der Beseligung im Jenseits und den bestandenen Gefahren im Diesseits. Die Belohnung fällt um so reicher aus, je treuer und gewissenhafter der Dienst getan wurde. Und wer aushält im Dunkel der Wege Gottes, wer seinen Willen anbetet, auch unter Tränen, der darf sicher sein, daß eine große Freude auf ihn wartet. Gott ist ein großer Herr und läßt sich nicht lumpen. Er läßt sich an Großmut von uns nicht übertreffen.

Der heilige Laurentius, dessen Fest wir vor wenigen Wochen gefeiert haben, hat seinen Herrn auf dem Rost, auf dem Feuerrost bekannt. „Auf dem Feuerrost habe ich, o Gott, dich nicht verleugnet. Im Feuer habe ich dich, Herr Jesus, bekannt.“ So läßt die Kirche ihn in der Liturgie singen. „Du hast mich heimgesucht bei Nacht, du hast mein Herz geprüft, aber es ward keine Bosheit in mir erfunden.“ Und er, der auf Erden lebendigen Leibes verbrannt wurde, freut sich jetzt eine ganze Ewigkeit im Lichte Gottes. Je dunkler die Wege auf Erden sind, um so strahlender wird das Licht sein, das denen scheinen wird, die diese Wege im Einklang mit Gottes Willen gegangen sind.

Die Wege Gottes – das ist der vierte Satz – sind undurchschaubar wegen dieses Dunkels. Aber das verheißene Licht läßt uns in Hoffnung ausschreiten. Hier ist der Glaube gefragt. Glaube ist ja nach dem Hebräerbrief die Überzeugung von dem, was man nicht sieht, das Vertrauen auf das, was man erhofft. Also gläubigen Sinnes muß man die Wege Gottes, die dunklen, die undurchschaubaren Wege Gottes durchschreiten, der Glaube ist gefragt, der Glaube, der auf das Verheißungswort Gottes baut. Und wer von diesem Glauben durchdrungen ist, wer diese Hoffnung in sich trägt, der ist auch fähig, die dunklen Wege, die Gott uns führt, zu durchschreiten. Man muß nur überzeugt davon sein, daß diese Wege zum Lichte Gottes führen.

Wir brauchen ja nicht die nächsten Jahre zu kennen, wir brauchen nur den nächsten Meilenstein zu kennen, zu dem wir schreiten müssen. Wenn wir das wissen, dann wissen wir genug, und dann können wir uns der Führung Gottes anvertrauen.

Die Wege Gottes sind wegen des Dunkels undurchschaubar, das nichts anderes ist als der Widerschein der unendlichen Majestät Gottes. Gott muß Gott bleiben! Wenn wir ihn durchschauen könnten, wäre er nicht mehr Gott. Der Kardinal Faulhaber hat einmal das schöne Wort gesagt: „Ich würde am Glauben irre werden – irre werden! –, wenn er klar wie Wasser und durchsichtig wie eine Quelle wäre. Denn dann wäre es erwiesen, daß er Menschengedanken und nicht Gottes Gedanken enthielte.“ Das sagt dieser weise, gelehrte und fromme Kardinal. „Ich würde am Glauben irre werden, wenn der Glaube so klar wie Wasser und so durchsichtig wie eine Quelle wäre, denn dann wäre erwiesen, daß er Menschengedanken und nicht Gottes Gedanken enthielte.“ Und dieser Glaube ist eben auch gefordert bei den Wegen, die Gott uns führt.

Der fünfte Satz lautet: Es ist zwecklos und vermessen, die Rätsel der Gottesführung lösen zu wollen oder dagegen aufzubegehren. Es ist mit den Wegen Gottes wie mit einem Teppich. Auf der Oberseite ist er wunderbar, es ist ein feines Muster eingearbeitet. Wenn man aber die Unterseite ansieht, dann scheint das ein wirres Gewühl von Fäden zu sein, die durcheinander und übereinander gehen. Ja, man muß eben die Oberseite sehen, und dann erkennt man, daß dahinter ein Plan steht und daß dieser Plan in wunderbarer Weise zum Ziel geführt wurde.

Die Rätsel Gottes hienieden lösen zu wollen, heißt den menschlichen Verstand mit dem göttlichen Geiste vergleichen wollen – und das ist ausgeschlossen. Der souveräne Herr läßt sich nicht in die Karten schauen. Es muß der Plan, den Gott für das irdische Leben hat, für uns undurchschaubar bleiben, wenn Gott der souveräne Herr Himmels und der Erde bleiben will. Und es ist vermessen, dagegen aufzubegehren. Das Geschöpf kann nicht gegen seinen Schöpfer vorgehen. Der heilige Paulus vergleicht den Menschen mit einem Tongefäß und Gott mit einem Töpfer: „O Mensch, wer bist du denn, daß du Gott zur Rechenschaft ziehst? Sagt etwa das Gebilde zu seinem Bildner: Warum hast du mich so gemacht? Oder hat der Töpfer nicht Macht über den Ton, aus derselben Masse ein ansehnliches oder ein unansehnliches Gefäß zu machen?“ Ja natürlich hat der Töpfer die Macht, ein ansehnliches oder ein unansehnliches Gefäß zu machen. Und so hat auch Gott die Macht, unser Leben bescheiden und einfach und verborgen zu führen oder auf den Leuchter zu stellen und zum Segen für viele andere sichtbar werden zu lassen.

Und schließlich der sechste Satz: Am Ende kommt einmal die große Klarheit. Bis dahin ziemt uns Geduld und demutsvoller Glaube an die Vatermacht und Weisheit Gottes. Wir sind nicht Menschen, die in ein auswegloses Verhängnis geführt werden, sondern wir sind Pilger, die auf dem Wege zu einem hehren Ort, zu einem Heiligtum, zu einer Gnadenstätte sind. Es geht also heim, es geht ins Licht, und das soll uns mit Freude und Dankbarkeit erfüllen. Und das soll uns auch veranlassen, geduldig und gläubig die Vatermacht Gottes und die Weisheit Gottes anzubeten.

Wir hören oft – wir Priester öfter als andere – den Vorwurf: „Wie kann Gott das zulassen? Warum muß das sein? Wieso gerade ich?“ Darauf hat der heilige Augustinus einmal eine treffende Antwort gegeben: „Wenn du fragst: Gott, wo ist deine Gerechtigkeit?, dann frage ich, Gott, dich: Wo ist dein Glaube? Habe ich dir das versprochen? Bist du dazu Christ geworden, daß es dir gut gehe auf Erden?“ Nicht wahr, das sind die Entgegnungen, die man bereithalten muß, wenn jemand über sein Geschick klagt und Gott anklagt, daß er ihn durch Dunkel und durch Qualen führt. Gott hat uns nicht versprochen, daß wir, wenn wir gläubig und seinen Geboten gehorsam sind, ein klagloses, ein friedliches, ein behagliches Leben führen können. Das hat er uns nie versprochen. Wie können wir dann ein solches Versprechen einfordern?

Nein, meine lieben Freunde, wir müssen uns in die unerforschlichen Ratschlüsse Gottes schicken. Auf dem Friedhof in Mombach habe ich einmal zwei Grabsteine, die in der nächsten Nähe zueinander stehen, gesehen. Auf dem einen steht: WARUM? Auf dem anderen: NACH GOTTES WILLEN. Das ist die rechte Haltung angesichts eines schweren Geschicks, angesichts des Todes. Nach Gottes Willen sind unsere Wege bestimmt, nach Gottes Willen sollen wir sie gehen. Gottes Allmacht und Weisheit sollen wir anbeten.

„Wahrhaftig, du bist ein verborgener Gott, Gott Israels!“

Amen.

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