Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
18. Oktober 2015

Einig im Notwendigen, unterschiedlich im Erlaubten

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Ich möchte Ihnen heute einige Verse aus dem Evangelium nach Matthäus vorlesen, die Sie wahrscheinlich in Ihrem Leben noch nicht gehört haben: „Wem soll ich dieses Geschlecht vergleichen? Es gleicht Kindern, die auf dem Markt sitzen und den anderen zurufen: Wir haben euch aufgespielt, aber ihr habt nicht getanzt; wir haben die Totenklage begonnen, aber ihr habt nicht getrauert. Denn Johannes trat auf, aß nicht und trank nicht, da sagen sie: Er ist besessen. Der Menschensohn trat auf, aß und trank, da sagen sie: Seht einen Schlemmer und Trinker, einen Freund der Zöllner und Sünder! Und gerechtfertigt wurde die Weisheit durch ihre Werke.“ In diesen Versen aus dem Evangelium des Matthäus hat der Herr uns ein Stück jüdischer Volkskunde überliefert. Jesus verwendet die Spiele von Kindern zum Gleichnis. Die Kinder spielen einmal Hochzeit und möchten Musik dazu machen und erwarten, dass andere sich beteiligen und tanzen; aber die wollen nicht. Ein anderes Mal spielen die Kinder Begräbnis und erwarten, dass die anderen trauern und klagen; aber sie versagen sich, es ist ihnen zu fad. Weder das lustige noch das traurige Spiel gefällt ihnen. Genauso, meint Jesus, macht es das zeitgenössische Geschlecht mit ihm und mit Johannes. Johannes passt ihnen nicht, weil er ein Asket ist. Er trinkt nicht, er isst nicht, er lebt in der Wüste. Und doch lehnen sie ihn ab. Jesus kam, aß und trank, ging zu den Sündern, nahm an ihren Gastmählern teil. Zu Johannes sagen sie: Er ist besessen, also vom Teufel beherrscht. Zu Jesus sagen sie: Er ist ein Fresser und Weinsäufer. „Und doch“, sagt Jesus, „und doch ist die Weisheit durch ihre Werke gerechtfertigt worden“, d.h. es gibt eben doch Menschen, die dem Herrn Gerechtigkeit widerfahren lassen, ebenso wie seinem Vorläufer.

Wir haben heute viele, viele Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche, welche das Christentum kritisieren. Kritik ist heute große Mode. Kritikfähigkeit wird von Studenten an erster Stelle verlangt. Kritisieren, das haben die Menschen gelernt, das haben auch die Christen gelernt, das haben auch die katholischen Christen gelernt: kritisieren, unaufhörlich kritisieren. Den einen ist das Christentum zu weltfremd, den anderen ist es zu weltlich. Was ist nun wahr? Hat nicht Benedikt XVI. die Entweltlichung des Christentums gefordert? Also dass es weniger weltlich sein soll, dass es sich mehr innerlich auf Christus, auf die Religion, auf die Gnade zubewegen soll. Was ist denn richtig? Bei den Kritikern des Christentums gibt es zweierlei Leute: Die einen suchen ehrlich nach der Wahrheit. Sie haben von ihrer Umwelt Vorurteile aufgenommen, und doch ist ihnen das Christentum nicht gleichgültig. Sie finden manches interessant, z.B. der Herr Gysi, der Vorsitzende der Fraktion der Linken im Bundestag, sagt, er ist ein Heide, aber er hat Respekt vor dem Christentum. Mit solchen Menschen, die ehrlich suchen, muss man Geduld haben. Man muss ihnen aber auch klarmachen, dass nicht allein der eigene Verstand zur Erkenntnis führt, sondern die Gnade Gottes. Man muss ihn in der Gnade demütig bewegen, dann schenkt einem Gott Erkenntnisse, an die man vorher nicht gedacht hatte. Vielleicht haben Sie in der Zeitung gelesen, dass vor kurzem der große schwäbische Unternehmer Liebherr, der die Kräne baut, in Bodenheim einen Vortrag gehalten hat. In dem hat er ausgeführt, er sei ein 68er. Er habe das Christentum abgeworfen, den Papst beschimpft, aber er hat zum Glauben gefunden. Er war in Fatima, er war in Medjugorje; die Mutter Gottes, so ist er überzeugt, hat ihm den Weg zum Glauben gewiesen. Andere freilich sind so weit vom Christentum, dass sie kaum Aussicht haben, das Heil zu finden. Sie kritisieren aus reiner Lust an der Kritik. Sie sind selbstherrlich, sie meinen, sie allein wüssten, was recht ist. Das Ergebnis ihrer Prüfungen liegt von vornherein fest, sie wollen sich selbst bestätigen. Mit solchen Menschen kann man schwerlich diskutieren. Es gibt auch das furchtbare Wort Jesu: „Werft das Heilige nicht den Schweinen vor und gebt das Heilige nicht den Hunden preis.“ Es gibt Menschen, mit denen lohnt es sich nicht, zu diskutieren, denn sie wollen nicht zur Wahrheit kommen. Sie sind völlig von sich eingenommen und mögen sich nicht der Wahrheit beugen.

Ist die Wahrheit des Christentums mehrdeutig? Hat es ein vielfaches Gesicht? Oder gibt es nur eine Wahrheit? Die Wahrheit ist im Letzten Gott selbst. Gott ist die Wahrheit, und diese Wahrheit können wir nur im Spiegel und im Gleichnis erkennen. Also nicht, wie sie in sich selbst ist, sondern so wie sie in unserem menschlichen Verstand sich spiegelt. Um ein Beispiel zu nennen: Gott ist gerecht, aber Gott ist auch zugleich die Liebe. Ist das ein Widerspruch? Bei Gott nicht. Gott ist genauso von Gerechtigkeit erfüllt wie von Liebe. Wenn Menschen mehr die Barmherzigkeit, also die Liebe zum gefallenen Geschöpf lieben, dann ist das begreiflich. Aber Gott hört deswegen nicht auf, in gleichem Maße gerecht zu sein. Gott ist das eine wie das andere. Und heute besteht die große Gefahr, die Barmherzigkeit übermäßig zu betonen oder allein gelten zu lassen. Nein, Gott ist ebenso liebevoll wie gerecht, ebenso barmherzig wie gerecht. Leider ist sich die Christenheit im Verständnis des Christentums nicht einig. Von Anfang an sind Irrlehrer aufgetreten, haben Abspaltungen von der Kirche vorgenommen und Sondergemeinschaften gebildet. Und das ist das Merkwürdige: Sie alle berufen sich auf die Heilige Schrift. Aber sie legen sie falsch aus. Ein bekannter evangelischer Theologe hat erklärt: „Das Neue Testament begründet nicht die Einheit des Glaubens, sondern die Verschiedenheit der Konfessionen.“ Nach dessen Meinung können sich alle die verschiedenen Konfessionen auf das Neue Testament berufen. Der Grund, weshalb dieser Mann – Konzelmann heißt er – zu dieser Ansicht kommt, ist darin gelegen, dass er das oberste Prinzip aller Bibelauslegung nicht kennt: die Glaubensanalogie. Was ist Glaubensanalogie? Unter der Analogie des Glaubens verstehen wir den Zusammenhang der Glaubenswahrheiten untereinander und im Gesamtplan der Offenbarung. Glaubensanalogie heißt, dass es keine Offenbarungs- oder Glaubensaussage in der Kirche geben kann, die nicht in Analogie stünde und zu stehen habe zu dem einen objektiven Glauben. Und das gilt auch für die Auslegung der Heiligen Schrift. Altes Testament und Neues Testament sind innerlich aufeinander bezogen. Das Alte Testament ist der Schattenwurf, der Typus; das Neue Testament ist die Verwirklichung, die Leibhaftigkeit, die Erfüllung. Altes Testament und Neues Testament haben eine so große Ähnlichkeit zueinander, dass das Neue Testament im Alten verborgen und das Alte Testament im Neuen offenbar ist. Innerhalb des Alten und des Neuen Testamentes darf man keine einzelne Offenbarungsaussage für sich allein nehmen, sondern man muss jede einzelne Offenbarungsaussage in das Gefüge der gesamten Offenbarung einbauen. Ein Beispiel für den behaupteten Gegensatz innerhalb der Evangelien: Johannes, der Evangelist, berichtet in seinem Evangelium nichts von der Einsetzung der Eucharistie beim letzten Abendmahl. Ja, hat er davon nichts gewusst? Oder hat er es bewusst ausgeklammert? Wir wissen, dass die Einsetzung des Abendmahls bei den übrigen drei Evangelisten steht und dass Paulus ausführlich davon berichtet. Wer jetzt hergehen würde und sagen würde, für Johannes existiert das eucharistische Opfersakrament nicht, der würde sich gegen die Glaubensanalogie verfehlen. Außerdem gibt es Anzeichen, dass Johannes sehr wohl von der Einsetzung der Eucharistie wusste; er schildert nämlich die Fußwaschung ausführlich, wo sich der Herr gleichnishaft als das Sühneopfer, das für die anderen sich hingibt, dargestellt hat. Und wir haben auch die große eucharistische Rede, die er an seine Jünger gehalten hat, als er mit ihnen noch wanderte. Alle noch so gegensätzlich scheinenden Offenbarungsaussagen kommen zu jener Einheit der beiden Testamente zusammen, die auf den einen Gott als den Urheber der beiden Testamente zurückgeht. Diese Glaubensanalogie ist auch das Prinzip der kirchlichen Entscheidungen. Es stehen Häretiker auf; sie verabsolutieren eine bestimmte Wahrheit des Evangeliums – Luther z.B. die Rechtfertigung aus dem Glauben. Für ihn ist das Evangelium nur interessant, wenn es von der Rechtfertigung aus dem Glauben spricht. Diesem falschen Ansatz setzt das kirchliche Lehramt die Glaubensanalogie entgegen, d.h. die Glaubensaussagen, die zu dieser einen im Gegensatz stehen und die sie relativieren und auf den rechten Kern zurückführen.

Nicht jeder kann alle Aspekte der Offenbarung aufnehmen und bewältigen. Denken wir an unseren Herrn und Heiland. Er ist ja in mannigfacher Hinsicht zu erkennen, zu bewundern und anzubeten: als Kind, als Wanderprediger, als Wunderheiler, am Kreuze, in seiner Auferstehung. Den einen zieht es mehr zum leidenden Heiland und seinem Kreuze, den anderen mehr zum durchbohrten Herzen des Herrn. Die Herz-Jesu-Verehrung hat sich gegen viele Widerstände durchsetzen müssen. Und auch heute noch gibt es katholische Christen, die sie nicht üben. Mir sagte einmal ein bekannter Priester: „Ich bin kein Herz-Jesu-Onkel.“ Nanu! Ich bin in einer Pfarrei aufgewachsen, die dem Christkönig geweiht war. Über dem Hochaltar stand ein schönes Kreuz mit dem Heiland daran. Eines Tages kam ein neuer Pfarrer. Er ersetzte das Kreuz durch eine schöne Statue des auferstandenen Herrn. Ist das ein Widerspruch? Mitnichten, meine lieben Freunde, denn der Gekreuzigte ist nicht weniger König als der Auferstandene; er herrscht vom Kreuze. Soll das Christentum mehr weltzugewandt oder mehr weltabgewandt sein? Nun, es muss die richtige Mitte eingehalten werden zwischen Weltzugewandtheit und Weltabgewandtheit. Und Benedikt XVI. hat eben Recht, wenn er für die Gegenwart fordert, dass eine Entweltlichung stattfinden muss, dass die Menschen in der Kirche sich mehr dem Innerlichen zuwenden müssen. Heute wird vom Christentum verlangt, es müsse moderner werden. Mit wem Sie auch sprechen, ob das Abständige sind oder praktizierende Christen, sie alle sind sich einig: Das Christentum muss moderner werden. Ja, was meinen sie damit: Die Kirche muss moderner werden? Was meinen sie damit? Das bedeutet in der Regel: Die Wahrheit Gottes soll verstümmelt, seine Gebote sollen abgebaut werden – das nennt man modern. Wenn die Kirche das täte, wäre sie nicht mehr die Heilsanstalt und die Heilsgemeinde Gottes. Es wäre ihre Selbstzerstörung, aber daran arbeiten manche.

Die Kirche wird vom Heiligen Geist geleitet. Das ist eine unumstößliche Wahrheit. Aber es gibt viele Schäden und Mängel in der Kirche. Stammen sie auch vom Heiligen Geist? Mitnichten. Sie stammen von den Menschen. Diese sind immer in Gefahr, Gott nach ihrem Bilde zu gestalten, wie Feuerbach richtig behauptet hat. In der Kirche gibt es gottbestellte Autoritäten. Sie haben das Recht und die Pflicht, den Kirchengliedern die Glaubens- und die Sittenlehre verbindlich vorzulegen. Aber was ist, wenn sie selbst davon abweichen, wie manche deutsche Bischöfe? Wir müssen die Verkündigung der kirchlichen Hirten hören und annehmen. Aber wir hören sie mit unserem Verstande und vergleichen sie mit der sicheren Glaubenslehre und der gültigen Ordnung der Kirche. Wenn wir bei dieser Prüfung mit Gewissheit feststellen, dass die Äußerungen der kirchlichen Hirten davon abweichen, dürfen, ja müssen wir Widerspruch anmelden. Annahme und Gehorsam werden nur einer einwandfreien Verkündigung geschuldet. Den Juden fiel auf, dass Johannes und Jesus beide das Reich Gottes verkündeten, aber jeder auf seine eigene Art. Der eine, Johannes, betonte mehr den Ernst: „Die Wurfschaufel ist an die Tenne gelegt. Das Feuer wird hervorbrechen.“ Er hat den ganzen Ernst des Gerichtes, das ja mit dem Reich Gottes verbunden ist, den gläubigen Zuhörern unterbreitet. Jesus hat den Ernst nicht verschwiegen. Auch er hat vom Gericht und oft vom Gericht gesprochen, aber er hat natürlich auch die Freude des Reiches Gottes geschildert, im Hochzeitsmahle, zu dem die Menschen eingeladen sind. Das Reich Gottes ist beides; es geht vom Ernst aus und es führt zur Freude. Das Heilsgeheimnis in Christus ist eben so reich, dass es von einem Menschen, einer Gemeinschaft, einer Richtung nicht ausgeschöpft werden kann. Es soll in der Kirche deswegen durchaus mehrere Richtungen geben. Sie haben die Aufgabe, die Wahrheit des Christentums je auf ihre Weise zu erforschen und dazustellen. Also: Die Augustinisten halten sich mehr an Augustin und Plato, die Thomisten halten sich mehr an Thomas von Aquin und Aristoteles. Das ist völlig unbedenklich; sie ergänzen sich gegenseitig. Eines freilich muss gewahrt bleiben: Die Richtungen dürfen nicht von der Einheit, dem Bekenntnis und Verständnis der christlichen Wahrheit abweichen. Ich erinnere mich, dass in meiner Studienzeit manche Mitbrüder die Verehrung der Dreimal Wunderbaren Muttergottes in Schönstatt mit ironischem Lächeln bedachten. Wenn man sich aber bemüht, den Titel „Dreimal Wunderbare Mutter“ zu verstehen, dann erkennt man, dass er sinnvoll ist. Wunderbar sind alle Heiligen, weil Gott sie ja herrlich ausgestattet hat, aber keiner von ihnen kommt an die Mutter des Herrn heran. Ist sie nicht dreimal wunderbar? Die einen sehen als wünschenswerte Reform an, was die anderen als verderblichen Missbrauch verurteilen. Wer hat Recht? Die Antwort ergibt sich aus Übereinstimmung des Gegenstandes mit der Lehre der Kirche und der gesunden Tradition. Es hat wohl keine Zeit gegeben, meine lieben Freunde, in der nicht die priesterliche Ehelosigkeit angefochten war. Immer gab es Menschen – auch in der Kirche –, die Anstoß nahmen am priesterlichen Zölibat. Im vorigen Jahrhundert war das so, im 19. Jahrhundert war es so; es ist keine Zeit frei von Angriffen. Selbstverständlich hat der Zölibat seine Schwierigkeiten. Aber ich behaupte: sie sind geringer als die Schwierigkeiten in der Ehe. Es ist leichter im Zölibat enthaltsam zu leben, als in der Ehe die Keuschheit und Reinheit zu bewahren. Die Kirche weiß, warum sie an diesem Gesetz festhält, allen Angriffen zum Trotz. Ihre gesunde Tradition bewahrt sie davor, hier voreilig den verführerischen Stimmen der Gegner nachzugeben. Wir dürfen innerhalb der Kirche nicht eng sein. Katholisch sein heißt, weit sein. Alles Gute und Wahre hat Platz in der Kirche. In der Kirche ist die Aufhebung aller Gegensätze beschlossen. Wer zur Strenge neigt, der sei streng gegen sich selbst, aber er tadle nicht den, der weniger streng ist. Wer sehr marianisch eingestellt ist, der ziehe nicht gegen die zu Felde, die sehr liturgisch eingestellt sind. Wir haben in der Kirche große Freiheit. Notwendig müssen wir im Glauben eins sein, aber in der Praxis des kirchlichen Lebens dürfen wir einzelnen berechtigten Richtungen folgen.

Amen. 

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