Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
26. Dezember 2012

Der neue Mensch

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn! 

Eine doppelte Stimmung liegt über der heiligen Weihnacht. Einmal eine Stimmung kindlicher Freude, dass Gott uns seinen Sohn schenkt. Diese Freude hat ihren unnachahmlichen Ausdruck gefunden in den innigen Weihnachtsliedern des deutschen Volkes. Da hat das Volk wirklich seine Seele hineingesungen in die Weihnacht. Daneben aber spricht sich eine zweite Stimmung aus, nämlich die Bewunderung der Größe und der Macht Gottes. Im Eingangslied der Weihnachtsmesse heißt es: "Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt!" Damit ist die Präexistenz, das ewige Sein des Gottesohnes ausgesprochen. "Präexistenz", so heißt der theologische Fachausdruck. Es ist die ewige Existenz der zweiten göttlichen Person. Eine menschliche Natur hat er angenommen, aber er lebte von Ewigkeit. Noch gewaltiger kommt diese Macht Gottes zum Ausdruck, wenn es dann heißt in derselben ersten Weihnachtsmesse: "Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde dir zum Schemel der Füße stelle." Das ist das Königtum unseres Messias. Dieser Gedanke ist uns notwendig, denn meine lieben Freunde, es ist ein eigenartiger Kontrast in uns modernen Menschen. Im Äußeren suchen wir das Unerhörte, das nie Dagewesene, den Weltrekord. Aber innerlich werden wir Menschen immer haltloser. Es ist, als ob unsere äußere Kraft verzehrt würde durch die Leistungen, die wir uns nach außen abverlangen. In den meisten Menschen herrscht der Trieb, nicht der Wille. Der Trieb in der Art und Weise, wie man mit Speise und Trank umgeht. Der Trieb in der Art, wie man sich freut, seine Vergnügungen sucht. Der Trieb in dem Ziel, das man sich setzt. Die meisten Menschen gehen von dieser Erde, wie sie gekommen sind: unverwandelt, unverändert, mit denselben Trieben und Leidenschaften. Die Triebe haben erst geschlummert, dann sind sie erwacht, sind stärker geworden und im Alter vielleicht abgeebbt. Das ist das Leben. Nicht wir gestalten unser Leben, sondern wir werden gestaltet von den Trieben. Am klarsten sieht man das, wenn man fragt, wie stehst du zu deinem Bruder? Der Naturmensch sagt: "Wie du mir – so ich dir!" Wir sind vielleicht nicht mehr so unkultiviert, aber wie beantworten wir Schärfe und Unrecht? Ich werde nie vergessen, daß unser Direktor im Gymnasium uns sagte: "Jungens, ihr müßt lernen, ungerechte Kritik ertragen!" Der Direktor hatte recht, das muss man lernen. "Jungens, ihr müsst lernen, ungerechte Kritik ertragen!" Man kann sich nicht immer wehren. Man muss Vieles hinnehmen. Und darin zeigt sich eben der Sieg über den Trieb.

In diese Welt der Triebe ist Christus gekommen. Die Menschen zählen nach seiner Geburt die neue Zeitrechnung. Das muss so sein, denn er hat etwas ganz Neues  gebracht, einen ganz neuen Weg, einen ganz neuen Menschen. Vor einigen Jahren hat einmal ein Theologe ein Buch geschrieben mit dem Titel: "Christentum als Neuheitserlebnis". Genau das ist es. Damit hat er den Kern des Christentums getroffen. Das Christentum ist etwas Neues. Dort, wo sich das Christentum durchsetzt, da geschieht etwas Neues, da vollzieht sich der Sieg des Willens, des Gnadenwillens über den Trieb des Menschen. "Lebt einer in Christus", schreibt Paulus, "so ist er ein neues Geschöpf." Ein neues Geschöpf. Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden. An einer anderen Stelle ruft er seinen Anvertrauten zu: "Einst wart ihr Finsternis, jetzt seid ihr Licht." Einen größeren Kontrast kann man sich nicht vorstellen als zwischen Finsternis und Licht! Die Christen haben diese Botschaft begriffen. Der Schriftsteller Aristides hat im Anfang des zweiten Jahrhunderts eine Schutzschrift für die Christen an den Kaiser Hadrian gerichtet. Und was schreibt er in dieser Schutzschrift? "Wahrhaft neu ist dieses Volk. Eine göttliche Mischung ist in ihm." Wahrhaft neu ist dieses Volk. Eine göttliche Mischung ist in ihm. Und der schlesische Dichter Angelus Silesius sagt es auf seine Weise: "Ach, Bruder, werde doch, was bleibst du Dunst und Schein? Wir müssen wesentlich ein Neues worden sein!" Wir müssen wesentlich ein Neues worden sein. Vergebung und Begnadung schaffen den neuen Menschen in Gerechtigkeit und Heiligkeit, wenn er sich der notwendigen Mitarbeit nicht entzieht, denn alle göttlichen Gaben sind gleichzeitig Aufgaben. Wir sind in Christus Jesus geschaffen zu – zu – neuen guten Werken, die Gott im voraus bereitet hat, damit wir darin wandeln. Wir sollen also Gutes tun, Wohltaten spenden, Segen verbreiten. "Wandelt würdig", so ruft Paulus den Ephesern zu, "wandelt würdig des Berufes, der euch zuteil geworden ist. Seid voll Demut, Sanftmut und Geduld. Ertraget einander in Liebe." An einer anderen Stelle: "Ertötet, was in euren Gliedern irdisch ist: Unzucht, Unkeuschheit, Leidenschaft, böse Lust und Habsucht." Wenn wir so leben beweisen wir, dass wir neue Menschen sind. Die neuen Menschen erbringen eben die Früchte des neuen Lebens, die Früchte des Geistes: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Milde, Enthaltsamkeit. Die Christus angehören, haben ihr Fleisch gekreuzigt samt den  Leidenschaften und Begierden.

Heute feiert die Kirche einen solchen Menschen, einen solchen neuen Menschen: Stephanus, den Diakon. Seine Feinde haben ihn gesteinigt, aber er hat nicht um Rache gerufen, sondern: "Vater, verzeih' ihnen, rechne ihnen die Sünde nicht an." So sterben neue Menschen. Es gibt auch unter uns diese neuen Menschen, die sich selbst beherrschen, die sich selbst überwinden, die sich selbst verleugnen. Es gibt sie schon, die neuen Menschen. Es ist unwahr, wenn man sagt, es gibt keine neuen Menschen. Es gibt sie! Die Menschen, die anderen dienen unter Absehen vom eigenen Ergehen. Die Menschen, die sich selbst vergessen und das Wohl und das Heil des Anderen befördern. Es gibt Christen, denen der Riss zwischen Frömmigkeit und Leben unerträglich ist, Christen, die mutig kämpfen gegen die bösen Mächte in der Welt und in der eigenen Brust. Es sind vielleicht nicht allzu viele und vor allem nicht genug. Noch überwiegt die Mehrzahl der Triebhaften. Und deswegen kann man oft schon im Voraus sagen, wie die Menschen in Zukunft handeln werden. Sie handeln entsprechend ihren Trieben. Bei Christus versagt alle menschliche Voraussicht. In seinem Leben hat sich alles von Grund auf anders gestaltet, als Menschen es voraus gedacht haben. Sie erwarteten einen König, und es kam ein armes Kind. Sie erwarteten einen Fürsten im Besitz der irdischen Macht, und es kam ein armes, wimmerndes Menschenkind in der Krippe. So unerhört und unerwartet war dieses Kind, dass die Menschen sagten: „So kann der Messias nicht sein.“ Man war gewohnt zu siegen mit großen Heeresmassen, mit Ross und Wagen, und Christus kommt mit gebundenen Händen, um zu überwinden mit einem Kinderweinen und mit einer Einsamkeit in der Heiligen Nacht. Ein neues, ein ganz neues Königtum bringt er. Alle unsere Begriffe von Kraft und Stärke müssen wir umwerfen, reformieren. Was wir schwach zu nennen pflegen, das ist Kraft. Was wir töricht nennen, das ist weise. Wir beantworten Schärfe mit Schärfe. Wie antwortet Gott? Als Kindlein in der Krippe! Diese Weise zu Handeln hätte sich kein Mensch ausdenken können. Die Götter der Heiden, die entspringen dem Kopf der Menschen. Aber der Gott, der Mensch geworden ist, der ist ein Gedanke Gottes selbst. Das ist ein Gedanke Gottes, der sich hier verwirklicht. Stellen wir einmal die Sünde im Paradiese der Weihnacht gegenüber. Der Mensch glaubte dem Wort der Schlange, er wollte sein wie Gott. Und Gott antwortete: "Darum will Ich sein wie ein Mensch!" Das Geschöpf griff nach der Frucht, die Gott verboten hatte und sagte: "Was dein ist, ist mein!" Und Gott sagte: "Darum will Ich dir geben, was mein ist. Was mein ist, soll dein sein!" Der Mensch sagte: „Ich will nicht dienen!“ Und Gott antwortete: „Darum will Ich euer Diener sein!“ Der Hochmut des Menschen hat bei Gott den Gegensatz gefunden: "Er erniedrigte sich selbst und nahm die Gestalt eines Knechtes an." Dem Trotz setzte er entgegen den Gehorsam bis zum Tode am Kreuze. So antwortet Gott. Deswegen dürfen wir uns freuen, dass Gott nicht ist wie die Menschen, obwohl er Mensch geworden ist. Gerade dadurch, dass er Mensch wurde, dass er nicht ungütig und hart wurde, hat er uns gezeigt, wie wir ihn nachahmen sollen, in heiliger Weihnacht.

Die Vulgata, die lateinische Übersetzung des griechischen Neuen Testamentes, gibt den Ruf der Engel wider: "Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen, die guten Willens sind." Die guten Willens sind, das ist die Übersetzung von „Eudokia“, dem griechischen Wort. Es ist nicht falsch, aber man muss es dann verstehen von den Mensnchen, die den Willen Gottes als guten Willen erfahren. Freilich, wir verstehen es meistens anders. Wir verstehen es vom guten Willen der Menschen, und das ist insofern nicht falsch, als Gott ja kein Wohlgefallen haben kann an Menschen, die keinen guten Willen haben. Das ist zweifellos die Absicht Gottes, denen sein Wohlgefallen zu erweisen, die guten Willens sind. Und das ist es, was von uns in heiliger Weihnacht erwartet wird. Der gute Wille, nicht der schwache gute Wille, sondern der starke gute Wille. Wie schwer fällt es den Menschen, etwas hinzunehmen. Das ist immer wieder eine der erschütterndsten Erfahrungen in einem Priesterleben. Die Menschen wollen nichts hinnehmen, sie wollen nichts ertragen. "Jungens, ihr müßt lernen, ungerechte Kritik zu ertragen", sagte der Direktor. Er hat recht!  Man muss es lernen. Man muss lernen, Undankbarkeit zu ertragen. Man muss lernen, Unrecht zu ertragen. Man muss lernen, Menschen zu ertragen.

Trieb und Gnade, sie stehen im Kampf in jedem Menschen. Seien wir Menschen der Gnade mit einem neuen Denken und einem neuen Handeln. In einem unserer Heime war ein armes Fürsorgemädchen, erblich belastet, in dauerndem Kampf mit sich selbst. Einige Wochen ging es gut, dann kam es wie ein Wahnsinn über sie und sie zog hinaus zu ihren Freundinnen. Gebrochen kehrte sie nach wenigen Tagen zurück. In dieser Seelenstimmung kam sie einmal zu der Oberin des Hauses und sagte zu ihr: "Liebe Schwester Oberin, ich werde es Ihnen immer sagen, wenn es in mir anfängt zu toben. Ich bitte Sie, schließen Sie mich ein, damit ich nicht hinaus kann." Man tat es so. Und immer, wenn sie fühlte, dass ihre Kraft erlahmte, dass der Trieb übermächtig wurde, sagte sie, "verschließen Sie die Tür". Dieses arme Kind, das mit sich selbst nicht fertig wurde, das gerungen und gekämpft hat, dieses arme Kind, das ist es, für die das Christkind gekommen ist. Das Kind, das mit einem verhaltenen Weinen zu der Schwester kam, "ich kann nicht mehr, schließen Sie mich ein." Jeder hat seinen Kampf. Trieb und Gnade, sie ringen in uns wie Licht und Nacht in jeder Seele. In vielen wird sich die Frage zuspitzen zu der alles überragenden Frage: „Wie stehst du zu deinem Bruder? Wie stehst du zu deiner Schwester?“ In den Festestagen sollen Gnade und Liebe in unserem Herzen wachsen. Gnade und Liebe. Liebe für Unrecht, Liebe für Härte, Liebe für Weh'. Christus ist geboren. Ich weiß nicht, ob die Welt noch immer an diesen Christus denkt. Aber wir wissen es. Und wir wollen es aus der heiligen, verschwiegenen Nacht hinausrufen, sieghaft als Kämpfer des neuen Reiches, als neue Menschen. Als neue Menschen, die das Reich des Christkinds in der Welt aufbauen helfen.

Amen.

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