Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
1. Januar 2011

Die unerforschlichen Wege Gottes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

In Todesanzeigen kann man gelegentlich lesen, dass ein Kind, ein junger Mann, eine Mutter „nach Gottes unerforschlichem Ratschluß“ aus diesem Leben abberufen wurde. Nach Gottes unerforschlichem Ratschluß. Gott ist unerforschlich. Wir nennen seine Wege und sein Walten unerforschlich, weil wir es weder im Vorhinein erahnen können, und weil wir es auch im Nachhinein oft nicht erklären können. Der Apostel Paulus schreibt im Brief an die Römer: „O Gott, wie unerforschlich sind deine Wege und wie unergründlich deine Gerichte! Wer hat die Gedanken des Herrn erkannt? Wer ist sein Ratgeber gewesen?“ Antwort: Niemand. Die Unerforschlichkeit Gottes ist festzuhalten, aber ebenso seine Lenkung der Welt, seine Leitung der Geschicke der Menschen. Der unerforschliche Gott ist nicht ein blind und blindlings handelnder Gott; seine Unerforschlichkeit bedeutet nicht Willkür, sondern sie besagt lediglich die Unverfügbarkeit seines Wollens und Handelns. Die Unverfügbarkeit (für uns Menschen) seines Wollens und Handelns. Gott hat einen Plan mit den Menschen, und er weiß ihn sicher zu erreichen. Nicht ein augenloses Schicksal steht über unserem Leben, sondern die Vorsehung unseres Gottes. Er lenkt mit seiner Allmacht die Erde und das ganze Weltall von einem Ende zum anderen. Alles liegt enthüllt und offen vor seinen Augen, auch das, was aus der freien Entscheidung des Menschen entspringt. Gott kennt alle Handlungen, die wir im kommenden Jahre vornehmen werden. Er weiß sie im voraus, bevor sie geschehen sind. Alle seine Wege sind vorbereitet, und seine Ratschlüsse sind nach seinem Vorherwissen festgesetzt. Nichts geschieht ohne den Willen des Allmächtigen. Entweder läßt er zu, dass es geschieht, oder er tut es selbst.

Der wahre Gott ist eben anders als die Götter der Heiden. Die Heiden haben an Götter geglaubt, aber sie waren davon überzeugt, dass die Götter dem Schicksal unterliegen. Das Schicksal thront über den Göttern. Bei uns ist es genau umgekehrt. Gott lenkt das Schicksal, ja er ist das Schicksal. Nach Ansicht der Heiden konnten es die Menschen mit Gott aufnehmen, wie Prometheus, der Gott das Feuer geraubt hatte. Nach unserem Glauben kann menschliche Schwachheit die Pläne der göttlichen Allmacht nicht umstoßen. Der göttliche Baumeister vermag auch mit fallenden Steinen zu bauen.

Die Wege aber, die Gott führt, sind häufig anders, als wir denken und erwarten. Seine Wege sind unerforschlich. Es ist unmöglich, in die Pläne Gottes einzudringen, und es muss unmöglich sein. Diese Unmöglichkeit ist nämlich im Wesen Gottes begründet. Wenn der Mensch imstande wäre, Gottes Pläne und Gottes Gedanken und Gottes Wege zu erforschen, dann wäre er ja Gott gleich, dann könnte er ja in Gott eindringen, dann verlöre Gott ja seine Überweltlichkeit, seine Transzendenz, seine Unverfügbarkeit. Gottes Unerforschlichkeit ist ein Bestandteil seiner Göttlichkeit.

Wir können Gottes Fügungen und Führungen nicht durchschauen, nicht berechnen, nicht voraussehen. Dennoch dürfen und sollen wir Pläne fassen, Konzepte machen, Ziele anstreben. Gott hat uns ja dazu mit Verstand und Willen ausgerüstet. Aber alle unsere Projekte und Pläne stehen unter dem Vorbehalt: Wenn Gott will. In meinem Elternhaus hing an der Wand eine Tafel, und auf der stand geschrieben: „Sorg’, aber sorge nicht zuviel. Es kommt doch, wie Gott es haben will.“ Wie wahr! Sorg’, aber sorge nicht zuviel. Es kommt doch, wie Gott es haben will. Wir sollten uns also nicht wundern, nicht irre werden an Gott und auch nicht verzweifeln, wenn unsere Pläne mißlingen, wenn unsere Vorhaben scheitern, wenn unsere Absichten fehlschlagen. Manchmal sind wir ja selbst daran schuld. Aber ein andermal türmen sich eben Hindernisse vor uns auf, die wir nicht überwinden können. Da ist Gott im Spiel. Wir sind kurzsichtig, Gott hat einen weiten Blick. Unsere Augen sind gehalten, die Augen Gottes sind frei. Wir denken an unsere zeitlichen Vorteile, Gott denkt an unser ewiges Heil. Deswegen gilt, was beim Propheten Isaias steht: „Meine Wege sind nicht eure Wege, und meine Gedanken sind nicht eure Gedanken. So hoch der Himmel über der Erde steht, so hoch sind meine Wege über euren Wegen und meine Gedanken über euren Gedanken.“

Nun gibt es bei der Fügung Gottes gewisse Gesetze. Eines dieser Gesetze lautet: „Je herrlicher das Licht ist, in das Gott einen Menschen führen will, desto tiefer ist die Nacht, durch die er wandern muss.“ Ja, genauso ist es. Je herrlicher das Licht ist, in das Gott einen Menschen führen will, desto tiefer ist die Nacht, durch die er geführt wird. Warum? Gott erwartet vom Menschen die Bewährung, bevor er ihn auszeichnet. Er verlangt vom Menschen Arbeit, bevor er ihn belohnt. Er legt dem Menschen Kampf auf, bevor er ihn krönt. Gott führt jene, die er lieb hat, den Weg des Leides, und je größer die Liebe ist, um so härter sind die Leiden. Die Kinder der Erde beteuern ihre Liebe mit Rosen, der Herr des Himmels aber schickt Dornen als Boten seiner Liebe. Gott hat uns versprochen, in der Ewigkeit alle Tränen abzutrocknen, die wir geweint haben. Ohne Zweifel wird der Trost um so größer sein, je mehr Tränen aus unseren Augen geflossen sind.

Es ist ein unumstößliches Gesetz in den Führungen Gottes: Je weiter einer im Leben des Geistes (des Heiligen Geistes) voranschreitet, desto schwerere Kreuze werden ihm begegnen. Es ist überall ein Kreuz für uns bereitet. Und umgekehrt muss man sagen: Wen Gott verderben will, dem läßt er alles glücken. Der, dem alles glückt, der wird hochmütig, der wird übermütig, der schreibt sich das selber zu. Gott muss das Scheitern in unser Leben einplanen, wenn wir zum Ziele kommen sollen. In den dunklen Stunden der Versuchung wird der Heilige geboren. Wir wollen also nicht fragen: Wie kann Gott das zulassen? Sondern wir sollen fragen: Wie kann ich diese Zulassung Gottes am besten benutzen für mein Heil?

Das nächtliche Dunkel, in das Gottes Wege gehüllt sind, macht sie uns unüberschaubar. Aber das verheißene Licht läßt auch Hoffnung in uns aufblühen. Der unerforschliche Gott hat uns nicht ohne Stütze gelassen. Diese Stütze nennen wir Glaube. Der Glaube ist das feste Vertrauen auf das, was man erhofft, das Überzeugtsein von dem, was man nicht sieht. Das ist ein fundamentaler Satz aus dem Hebräerbrief. Der Glaube ist das feste Vertrauen auf das, was man erhofft, das Überzeugtsein von dem, was man nicht sieht. Sie sehen schon, der Glaube ist mit der Hoffnung verschwistert. Unsere Hoffnung ruht auf dem Glauben. Wir hoffen nicht grundlos, denn unsere Hoffnung gründet in der Wahrhaftigkeit, in der Zuverlässigkeit, in der Treue Gottes. „Treu ist, der euch berufen hat“, schreibt der Apostel Paulus an die Gemeinde in Thessalonich. Und an einer anderen Stelle: „Laßt uns unerschütterlich festhalten am Bekenntnis unserer Hoffnung, denn getreu ist der, der die Verheißung gegeben hat.“

Freilich, es ist zwecklos und vermessen, hienieden die Rätsel der Gottesführung lösen zu wollen oder gegen sie aufzubegehren. Gott läßt sich die Uhr von keinem Menschen stellen. Er läßt sich vieles erbitten, aber nichts abzwingen. Wir dürfen fragen, warum Katastrophen eintreten. Wir dürfen fragen, warum – wie mir soeben ein Herr erzählte – wieder koptische Christen in Ägypten ermordet worden sind. Wir dürfen fragen, warum uns Krankheiten und Unfälle treffen. Aber wir sind außerstande, mit Glaubensgewißheit zu erklären, weshalb gute Menschen nicht vorankommen und Bösewichte Erfolge haben, weshalb die besten Vorhaben scheitern und das Unheil voranschreitet, weshalb Helden und Heilige vor der Zeit aus dieser Welt abgerufen werden und andere, die Unheil anrichten, ein hohes Alter erreichen. Es bleiben Rätsel, quälende Fragen. Wir Christen bezeichnen ja die uns auferlegten Leiden als Kreuz. Warum? Weil das Kreuz das Leidenswerkzeug unseres Herrn war. Am Kreuze hat er für uns gelitten, am Kreuze hat er uns aber auch erlöst. Und deswegen, wegen dieser Doppelnatur nennen wir unsere Leiden Kreuze. Und dafür gelten drei Sätze, die ich, meine lieben Freunde, Ihnen am Anfang des Jahres ins Herz schreiben möchte, drei Sätze.

Erstens: Wenn du dein Kreuz willig trägst, wird dich das Kreuz hinwieder tragen. Wenn du dein Kreuz willig trägst, wird dich das Kreuz hinwieder tragen. Das heißt: Wer sein Leiden in Ergebung gegen Gottes Willen annimmt, der erfährt, dass dieses Leiden eine Lebenshilfe ist. Er erfährt, dass durch das geduldig getragene Leiden ungeahnte Kräfte im Menschen wach werden, dass er im Leiden Tugenden ausbildet, die ohne das Leiden nicht gewonnen werden, dass ihn das Leiden vor schlimmen Sünden bewahrt, in die er sonst gefallen wäre.

Der zweite Satz lautet: Wenn du dein Kreuz unwillig trägst, legst du auf dein Kreuz ein zweites Kreuz, machst dir die Bürde noch einmal so schwer und wirst sie am Ende doch tragen müssen. Wenn du dein Kreuz unwillig trägst, legst du auf dein Kreuz ein zweites Kreuz, machst dir die Bürde noch einmal so schwer und wirst sie am Ende doch tragen müssen. Empörung und Verdrossenheit bringen uns nicht weiter, machen das Leiden nicht leichter, machen es nur schwerer. Ergebung in Gottes Willen macht das Leid erträglich.

Der dritte Satz lautet: Wenn du dein Kreuz gewaltsam abschüttelst, wird du ohne Zweifel wieder ein anderes finden. und dieses andere wird vielleicht schwerer sein als das vorige. Wenn du dein Kreuz gewaltsam abschüttelst, wird du ohne Zweifel wieder ein anderes finden, und dieses andere wird vielleicht schwerer sein als das vorige. Ohne Kreuz können wir nicht auskommen in diesem Leben. Es ist klüger, das von Gott verordnete Kreuz zu tragen, als sich selbst ein Kreuz aussuchen zu wollen.

Einmal, meine lieben Freunde, einmal kommt die große Klarheit. Bis dahin geziemen uns Geduld und demütiger Glaube an Gottes Vatermacht und Weisheit. Wir werden nicht immer in Ungewißheit über Gottes Pläne, Gottes Wege, Gottes Führungen bleiben. Wenn wir einmal Gott schauen dürfen, werden wir auch die Absichten, die er mit uns gehabt hat, begreifen. Dann wird uns klar werden, warum Gott unsere Wünsche unerfüllt ließ, warum unsere Arbeiten erfolglos waren, warum unser Werk ein Torso blieb. Schon jetzt geht uns manchmal nach geraumer Zeit auf, dass es nützlich für uns war, wenn Pläne nicht gereift sind, wenn Absichten nicht zur Durchführung kamen. Mancher von uns muss mit Scham bekennen, dass die Nichterfüllung seiner Wünsche heilsam für ihn war, dass er dadurch vor Verirrung bewahrt blieb, dass er im Glauben gewachsen und in der Hoffnung gestärkt wurde. Da sagt einer: Das muss ich haben. Das will ich haben. Und er kann es trotz aller Anstrengung nicht erreichen. Wenn einige Zeit verflossen ist, da kann er erkennen: Es war heilsam für ihn, dass er den begehrten Gegenstand nicht erringen konnte. Es ist genug Licht da, um an Gottes Vorsehung zu glauben. Es ist aber auch genug Dunkel da, um den Glauben an Gottes Vorsehung zu einer ständigen Aufgabe für uns zu machen. In der Ewigkeit wird uns aufgehen, wie wohlwollend Gott an uns gehandelt hat, wie alle seine Absichten über uns gut waren, wie blind wir waren, als wir uns seinen Plänen zu entziehen versuchten. Es wird uns aufgehen, wie töricht wir waren, dass wir uns gegen Gottes Führungen auflehnten, dass wir murrten gegen seine Schickungen.

Am Anfang des neuen Jahres, meine lieben Freunde, wollen wir Vertrauen zu Gottes Vorsehung haben, dieses Vertrauen in uns erneuern, dieses Vertrauen stärken. Wir wollen uns nicht an seiner Unerforschlichkeit stoßen. Wir wollen beten, wie der selige Kardinal Newman gebetet hat: „Führe, du mildes Licht, im Dunkel, das mich umgibt. Führe du mich hinan. Die Nacht ist finster, und ich bin fern der Heimat. Führe du mich hinan. Leite du meinen Fuß, sehe ich auch weiter, wenn ich nur sehe jeden Schritt. Einst war ich weit zu beten und setzte mir stolz das eigene Ziel, trotzend dem Abgrund, dachte ich meinen Weg zu bestimmen. Aber jetzt laß es vergessen sein. Du hast mich so lang behütet, wirst mich auch weiter führen über Ströme, über sumpfige Klippen, über lauerndes Meer, bis vorüber die Nacht und im Morgenlicht Engel mir winken. Ach ich habe sie längst geliebt, nur vergessen für kurze Zeit.“

Amen.

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