Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
19. April 2009

„Durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Is 53)

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die meisten von Ihnen werden schon einmal ein Bild des Isenheimer Altares gesehen haben. Dieses große Kunstwerk ist in Colmar zu besichtigen. Es stammt von dem deutschen Meister Matthias Grünewald. Auf diesem Tafelgemälde ist einmal die Kreuzigung Jesu in erschütternder Weise dargestellt, aber auch seine Auferstehung in ergreifender Weise. Da ist zu sehen, wie der Herr in lichtvoller Gestalt gegen Himmel fährt. Die Hände glänzen; aus seinen Wunden fährt es wie kleine Blitze und sein Haupt ist von Lichtglanz umhüllt. Wahrhaftig, dieses Gemälde ist eine Predigt durch die Kunst. Es ist ein Lehrwort, ein Lehrwort, dessen wir uns heute bedienen wollen, um nachzudenken, warum der Herr, der auferstandene Herr die Wunden, die Male der Wunden, die Merkmale der Wunden beibehielt, als er siegreich aus dem Grabe erstieg.

Der erste Grund ist darin gelegen: Für eine unerhörte Tatsache braucht es auch unerhört starke Beweise. Wohl hatte der Herr den Jüngern seine Auferstehung vorhergesagt, aber über der Katastrophe des Karfreitags vergaßen sie das Halbbegriffene. So kam es, dass sie die Wiederkehr des geliebten Meisters in das Leben zu glauben sich nicht getrauten, dass sie vor der Erscheinung, die plötzlich vor ihnen stand bei verschlossenen Türen, zutiefst erschraken. Jesus hat drei Weisen benutzt, um zu zeigen, dass er der mit sich identisch gewordene Herr ist. Er ist kein anderer geworden, er ist derselbe geblieben, aber er ist anders geworden. Der erste Hinweis war sein Gruß: „Der Friede sei mit euch!“ So hat er sie immer begrüßt. Das Zweite war sein aufmunternder Hinweis: „Ich bin es selbst.“ Ich bin mit mir identisch. Der Auferstandene ist kein anderer als der Gekreuzigte. Und schließlich, was den Jüngern den letzten Zweifel aus dem Herzen verscheuchte, der Beweis, der sie gewissermaßen überwältigte und zur Anbetung führte, das waren die Zeichen der Kreuzigung, die er an sich trug. „Seht her, meine Hände und meine Füße!“

Nie, meine Freunde, nie hat der Unglaube Unglaubwürdigeres empfunden, als da, wo er den Einwurf machte, die durch den Tod tief betrübten Jünger hätten Phantasievorstellungen gehabt, in denen sie Jesus zu sehen meinten. Wie schroff der Bericht, der nüchterne Bericht der Evangelien dieser Vorstellung widerspricht, liegt auf der Hand. Die Jünger wurden durch die Tatsache überwunden, nicht durch eine Wunschvorstellung getröstet.

Der Grübler Thomas in seiner trotzigen Stimmung hielt eher dafür, seine Gefährten seien einem Wahn verfallen, als dass er irgendeine dieser Botschaften, die sich ja überstürzten, ernst genommen hätte. Mit Recht bemerken die Kirchenväter, der Unglaube des Thomas habe uns, die wir keine Augenzeugen sind, mehr genutzt als der Glaube der Jünger. Dieser Unglaube führte ihn zu einer Erprobung. Er stellte eine Bedingung: „Wenn ich nicht an seinen Händen das Mal der Nägel sehe und meinen Finger darein legen kann, wenn ich nicht an seiner Seite die Seitenwunde sehe und die Hand hineinlegen kann, dann glaube ich nicht.“ Der Herr ging auf diese Bedingung ein. Er zeigte sich den Jüngern acht Tage nach seiner Auferstehung und stand mitten unter ihnen, und zwar im Anblick der Wundmale. Aufgefordert, sie zu besichtigen, eingeladen, den Finger in die Stellen der Nägel zu legen und die Hand in die Seitenwunde, da knickte die Kühnheit – wenn wir sagen wollen: vielleicht die Herausforderung – des Thomas zusammen. Er warf sich beschämt und überwunden, erschüttert bis in den Grund seiner Seele dem Herrn zu Füßen und sprach das wunderbare Bekenntnis: „Mein Herr und mein Gott!“ Diese wenigen Worte enthalten ein offenes und feierliches Glaubensbekenntnis des gänzlich Umgewandelten. Die Wundmale des Herrn waren für Thomas – und bleiben für uns – der unumstößliche Beweis dafür, dass der Gekreuzigte mit dem Auferstandenen identisch ist.

Einmal werden auch wir die Wundmale des Herrn sehen können, die einen – die Guten – mit seligem Entzücken, die anderen – die Bösen – mit tödlichem Entsetzen. Jeder Mensch, der durch seine Todsünden mitschuldig am Tode Jesu geworden ist und nicht die Kraft zur Reue gefunden hat, wird dem Anblick seiner Untat nicht entrinnen, wenn er den verwundeten Herrn, den Herrn, der seine Wunden behalten hat, schauen wird. Die Bosheit der Welt hat Jesus in jene Trostlosigkeit hineingestoßen, wo sich Leib und Seele trennen. Ihm blieb nichts erspart. Das Band zwischen Leib und Seele wurde grausam zerrissen. Menschen und Dämonen hatten sich zusammengefunden, aber der Herr hat in der hehren Macht, in der ihm alles zu eigen ist, Leib und Seele in wunderbarer Weise vereint. Nun strahlen die Wunden, die Narben der Wunden als Erinnerungszeichen, als Siegeszeichen herrlich auf. Jetzt können wir beten, meine lieben Freunde: „In deine Wunden schließ mich ein.“ Ja, warum denn? Weil wir darin geborgen sind. Wer sich in die Wunden des Herrn einschließen läßt, der ist darin aufgehoben. „In deine Wunden schließ mich ein.“ So wollen wir beten jeden Abend im Abendgebet und oft auch am Tage. In den Wunden Jesu geborgen sein, das heißt gesichert sein gegen alle Feinde.

Der zweite Grund, warum Jesus seine Wunden behielt, liegt darin, dass die Werke Gottes ohne Reue sind. Jesus will im Himmel nicht verleugnen, dass er ein Mensch, ein ganzer Mensch, ein leidender Mensch war bis in den schauerlichen Todeskampf hinein. Und welcher Mensch kann die Kämpfe und die Siege in seinem Leben je vergessen? Unsere Soldaten erzählen, an welchen Schlachten sie teilgenommen haben, welche Verwundungen sie erlitten haben, und man kann sie besichtigen. So hält auch Jesus durch seine Wunden die Erinnerung, das Andenken an den Kampf, den er bestanden hat, wach. Das Andenken an seine Großtat zu unserem Heile, an sein Leiden und Sterben. Der mittelalterliche Dichter Walter von der Vogelweide hat in seinem Kreuzeslied die ergreifenden Verse geschrieben: „Sünder, du sollst der großen Not gedenken, die Gott für uns litt, und sollst dein Herz in Reu’ versenken. Man schlug ihm drei Nägel durch Hände und auch durch Füße, voll Schmerzes weint Maria, die Süße.“ Was Walter von der Vogelweide hier in seinen Versen aussagt, das entnehmen wir dem Propheten Isaias. Dort ist vorhergesagt, wie es unserem Herrn ergehen würde: „Unsere Krankheiten hat er getragen, unsere Schmerzen hat er auf sich genommen. Wir hielten ihn für einen von Gott Geschlagenen, in Wirklichkeit ward er durchbohrt ob unserer Sünden, zerschmettert wegen unserer Missetaten.“

Leiden, die überstanden wurden, die in der Kraft Gottes überwunden wurden, sind ein Adel in unserer Seele. Leiden, die so bewältigt wurden, sind immer höchster Ehren würdig. Und alle tiefen und hochgemuten Menschen haben die Leiden Christi geschätzt und geachtet. Michelangelo, der große Künstler, bat seine Angehörigen darum, wenn es zum Sterben mit ihm komme, dann sollten sie ihn an das Leiden Christi erinnern. Und er hat (er war ja auch ein Dichter) in einem schönen Sonett die Liebe Christi besungen, „die von dem Kreuze die Arme zu mir breitet“. Sicher ist jedes Leid ein Weg zu Christi Wunden, denn auch die Wunden, die ein Märtyrer, ein Dulder, ein Streiter in diesem Leben davonträgt, sie werden seine Zierde in Ewigkeit sein.

Drittens: Die Wunden Jesu sind auch ein Unterpfand seine hohepriesterlichen Berufes, seines Fürsprecheramtes. Auf den Wunden des Herrn liegt der Segen, den er uns erworben hat. Auf seine Wunden beruft er sich vor dem Vater. Er zeigt ihm seine Wunden, wenn er für uns eintritt und die Barmherzigkeit des Vaters anfleht. Er ist unser Mittler. Mittler heißt, er steht in der Mitte zwischen den Menschen und Gott. Und deswegen ist er Mensch und Gott. Er ist nicht nur Mensch, er ist auch Gott, und deswegen kann er so tatkräftig und so unumstößlich und so wirksam vermitteln. Jedesmal, wenn wir beten: „Durch Christus unseren Herrn“, berufen wir uns auf Christus, den Mittler. Unsere Gebete sollen durch Jesus zum Vater im Himmel emporsteigen, und der Segen des Vaters im Himmel soll durch Jesus zu uns fließen.

Immer macht Jesu Blut allen Schaden gut. Und auch das ist eine Erinnerung an die Wunden Jesu. „Deine Gnad’ und Jesu Blut macht ja allen Schaden gut.“ In einem alten Hymnus heißt es: „Süße Lanze, Gottes Seite netzte dich mit ihrem Blut; süßer Speer, aus Gottes Herzen rötete dich die Gnadenflut. Rettung finden alle Sünder still in Gottes Gnaden gut.“ Und so hat sich die Frömmigkeit der Gläubigen von Anfang an der heiligen Wunden Jesu bemächtigt. Die Wunden haben die Andachtsglut des betenden Gläubigen angefacht. Wenn wir für unsere Verstorbenen beten, dann berufen wir uns auf die heiligen fünf Wunden: „Durch die heilige Wunde deiner rechten Hand, erbarme dich seiner oder erbarme dich ihrer. Durch die heilige Wunde deiner linken Hand erbarme dich seiner, erbarme dich ihrer.“ Die fünf Wunden des Herrn sind wahrhaftig die fünf mächtigsten Liebesworte des Heilandes. Sie fragen uns: „Das tat ich für dich – was tust du für mich?“

Der heilige Franz von Assisi war ein besonderer Verehrer der heiligen Wunden. Er hat eine Nacht auf dem Berge in seiner Einsiedelei gebetet und immer nur vor sich hingesprochen: „O ewige Liebe, wie wenig wirst du geliebt!“ Als dann am Morgen die Sonne aufging und die ersten Strahlen ihn benetzten, da sah er vor sich eine Vision, ein Bild: ein Engel, in Seraph, an das Kreuz geheftet. Und er schwebte mit ausgebreiteten Flügeln auf ihn zu. Er spürte eine unglaubliche Wonne in seinem Herzen und gleichzeitig einen durchdringenden Schmerz. Als er sich anschaute, erkannte er, dass in seinem eigenen Leibe die Wundmale Christi eingeprägt waren. Keine Legende, meine Freunde, eine Tatsache, eine beglaubigte Tatsache, eine von vielen Zeugen beglaubigte Tatsache. Franziskus trug die Wundmale des Herrn an seinen Händen und an seinen Füßen. Der heilige Bonaventura, der Kardinal, hat es in seinem Testament bezeugt.

Auch die großen Prediger des Mittelalters haben die Verehrung der heiligen fünf Wunden dem gläubigen Volk ans Herz gelegt. „Fliehet“, sagt Johannes Tauler, vielleicht der größte Prediger des Mittelalters, „fliehet mit eurer ganzen Liebe in das geöffnete göttliche liebende Herz. Er möge euch alle an sich ziehen mit all euren äußeren und inneren Kräften. Dies möge er tun durch seine anbetungswürdigen Wunden.“ Ein anderer großer Prediger des Mittelalters, Johannes Herold, hat seinen Zuhörern die beseligende Wahrheit vorgetragen: „Christus hat uns an drei Stellen in seinem Leibe eingezeichnet, in seine Hände, um uns in unseren Nöten und Anliegen zu helfen; in seine Füße, um unsere Schritte zu leiten; in sein Herz, um uns niemals zu vergessen.“

Viele von Ihnen kennen die große Konvertitin, Dichterin und Lehrerin Luise Hensel. Ich bete jeden Abend das schöne Abendgebet, das sie uns gelehrt hat. Luise Hensel hat einmal, noch bevor sie zum katholischen Glauben gefunden hatte, gesungen: „Ich sah in hellen Gluten dein göttlich’ Herz erglühen, und sah in roten Fluten dein süßes Leben fliehen. Dann hab ich wohl empfunden, wie du mir alles bist, und wie aus deinen Wunden mit Trost und Leben fließt. Ich häng’ an deinem Munde, ich ruh’ in deinem Arm. In deiner Herzenswunde begrab’ ich Freud’ und Harm.“

Amen.

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