Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
30. Januar 2005

Die Individualität der Seele

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Martin Luther sagte von der Vernunft, sie sei eine Hure, die nach dem Bock Aristoteles stinkt. In seiner gewohnten unflätigen Art hat er die Vernunft niedergemacht. Das ist nicht der Standpunkt der katholischen Kirche. Die katholische Kirche schätzt die Vernunft und setzt sie in ihr Recht ein und bemüht sich, mit ihr den Glauben zu durchdringen oder die Präliminarien, die Vorbereitungen für den Glauben, zu erheben. Das ist der Grund, meine lieben Freunde, warum wir seit zwei Sonntagen uns bemühen, in das Geheimnis der menschlichen Seele einzudringen. Wir könnten uns damit beruhigen, dass wir sagen: Nun, die Seele ist ja bezeugt im Glauben der Kirche, in der Heiligen Schrift, und das genügt uns. Nein, es genügt nicht. Wir müssen uns auch bemühen, vernünftige Argumente für die Existenz und für die Wesensart der Seele beizubringen. Wir meinen, dass wir das können, indem wir aus der Tätigkeit auf die Eigenart der Seele schließen. Jedes Ding wirkt ja nach seiner Eigenart, und das tut auch die Seele. Und so kann man aus der Eigenart des Wirkens der Seele auf die Eigenart ihrer Wesenssubstantialität schließen.

Am ersten Sonntag stellten wir fest, soweit es unserem Bemühen gelungen ist: Die Seele ist eine Substanz, ein selbständiges Sein. Am zweiten Sonntag erkannten wir: Die Seele ist geistig, sie ist immateriell. Aus ihrer Eigenart, aus ihrem Wirken, aus ihren Tätigkeiten lässt sich schließen, dass sie eine geistige Substanz ist. Aber damit noch nicht genug. Es gibt nämlich Leute, die sowohl die Substantialität als auch die Geistigkeit der Seele einräumen, aber sagen: Die Seele ist ein Bestandteil, ein Modus, eine Emanation einer Weltseele, einer göttlichen Seele. Sie ist also nicht selbständig, sondern ein Bestandteil eines anderen, übergreifenden Seins. Dagegen müssen wir uns wehren und feststellen, dass sie Seele ein selbständiges Sein in sich selbst ist, dass sie eine geschlossene Individualität ist, eine Einheit, die nicht zerspalten ist, aber auch nicht aufgeht in einem anderen Sein. Diese individuelle Einheit der menschlichen Seele wird von der Vernunft bezeugt einmal durch das individuelle Selbstbewusstsein. Jeder Mensch weiß sich als ein einheitliches, selbständiges, gegenüber seinen Betätigungen selbstverantwortliches Sein. Jeder Mensch weiß sich von jedem anderen gesondert, auch von jedem höheren Wesen gesondert, mit einem eigenen, ganz eigenen Charakter ausgestattet. Hier liegt es begründet, dass jedes seelische Individuum alle seine Tätigkeiten als seine eigenen bezeichnet, nicht als die eines anderen. Jeder macht seine Erfahrungen, jeder reagiert in seiner Weise auf Eindrücke, jeder lebt in seinem Erinnerungskreise, jeder bildet seine Urteile, jeder zieht seine Schlüsse, jeder hat seine Grundsätze, jeder leidet an seinen Charakterfehlern, jeder will und handelt, wie es ihm passt. Er besitzt also einen persönlichen, einen individuellen Habitus.

Auf dieser selbständigen Konstanz, also Beständigkeit, des menschlichen Seins basiert auch das menschliche Ichbewusstsein, welches das ganze Leben umfasst. Der Mensch mag sich im Laufe seines Lebens ändern, soviel er will, er wird kein anderer, sondern er bleibt derselbe. Er mag anders werden, aber er wird kein anderer. Die individuelle Wirklichkeit bleibt das ganze Leben über bestehen. Das Ich fasst die Lebensgeschichte vom Anfang bis zum Ende in sich zusammen; alle seine Erlebnisse werden zu einer großen Lebensgeschichte zusammengefasst, und dafür übernimmt es die volle Verantwortung vor Gott und vor den Menschen. Nur eine individuelle Einheit, nur eine substantielle Selbständigkeit kann in so evident konstanter Weise ein solch tiefgreifendes individuelles psychisches Leben begründen.

Diese Einheit und Individualität schließt eine Zerspaltung der Seele in mehrere Stufen aus. Es sind nämlich Leute aufgetreten, die behaupten: Die Seele ist in Schichten aufgebaut. Es gibt eine vegetative Seele, es gibt eine sensitive Seele, es gibt eine intellektive Seele, und die ergänzen sich gegenseitig, bilden das Ganze und Gesamt der Seele. Nein. Die Seele ist ein einziges, unzerspaltenes, einheitliches Ich. Was der Mensch auch immer tun mag, ob es seine vegetativen Tätigkeiten sind oder seine intellektuellen, er weiß sich als das eine, gleiche Ich. Ich bin es, der den Arm hebt, und ich bin es, der reflexiv über eine Sache nachdenkt. Ohne ein solches einheitliches Seelenprinzip wäre der Mensch, die menschliche Einheit gefährdet. Nur so erhalten auch die Konflikte, die im Menschen vorkommen, ihre einzig mögliche sinnvolle Deutung, also der Konflikt etwa zwischen Geistigem und Sinnlichem. Dieser Konflikt ist nur so zu erklären, dass es einen Widerstreit in der ganzen, unzerteilten menschlichen Seele ist. Und nur so erklärt es sich auch, warum Vorgänge in der einen Menschensphäre sofort auf die andere überstrahlen. Wenn ich Schmerzen habe, dann bin ich auch in meinem Gemüt betroffen, weil eben nicht nur der Körper leidet, sondern auch die Seele, die ganze Seele, die eine und einheitliche Seele. So versteht man, wie der Mensch, wenn sein Körper getroffen wird, sagen kann: „Warum schlägst du mich?“

Die Forschung an den Embryonen, also an den kleinen Menschen, die im Mutterleib heranwachsen, bezeugt uns, dass der ganze Mensch grundgelegt ist schon im Mutterleib mit all seinen Anlagen und Fähigkeiten. Daraus schließt die Philosophie, dass die eine ganze Seele schon im ersten Augenblick im Menschen wirksam ist. Freilich ist das Instrument, dessen sie sich  in diesem irdischen Leben bedient, noch nicht ausgebildet, nämlich der menschliche Körper. Aber die Seele als solche ist da, ist vorhanden, und je weiter sich der Körper, das körperliche Substrat der Seele entwickelt, umso mehr kann die Seele sich seiner bedienen. Und das ist ja nun eine Tatsache: Leib und Seele sind auf Erden zu inniger Wirkgemeinschaft verbunden. Erst beide zusammen, Leib und Seele, bilden den ganzen Menschen. Je für sich genommen, sind Leib und Seele unvollständig. Sie müssen zusammenkommen, um den Menschen zu bilden.

Das letzte Prinzip im Menschen, das alles, jede Tätigkeit ermöglicht, ist der ganze Mensch, der zugleich körperlich und seelisch eine Einheit bildet, und diese Einheit ist auch der Grund dafür, weswegen sich im Menschen ein individuelles Ichbewusstsein findet. Der Mensch sagt: Ich erkenne, ich bin froh, ich bin traurig. Er sagt aber auch: Ich habe Kopfweh, ich bin müde, ich habe unregelmäßigen Puls. Das kann der Mensch nur sagen, weil eben alle seine Tätigkeiten durch das Ich zu einer Einheit zusammengefasst werden. Alle diese Erlebnisse aktiver und passiver Art sind Erlebnisse der einen, substantialen menschlichen Wirklichkeit, des einen, substantialen menschlichen Seins, das Leib und Seele umfasst. Diese Einheit ist auch der Grund dafür, warum der Mensch in dieser Einheit sein Lebensglück sieht. Er wacht mit größter Sorgfalt über die Unversehrtheit von Leib und Seele, und er ist bereit, dafür die größten Opfer zu bringen. Vor nichts schreckt er so sehr zurück wie vor der Trennung des Leibes von der Seele oder besser der Seele vom Leibe. Das alles ist nur verständlich, wenn es sich bei Leib und Seele nicht um ein Parallelgeschehen handelt, das nebeneinander herläuft, sondern um ein Sein oder Nichtsein des einen, ungeteilten Menschenwesens.

Aus dieser konkreten Seinseinheit wird auch verständlich, was bei einer bloßen Annahme einer Wechselwirkung nicht verständlich ist, nämlich worauf es beruht, dass eine bestimmte Seele einem bestimmten Leib zugeordnet ist und mit ihm zusammenwirkt, eine bestimmte Seele und ein bestimmter Leib. Der Grund hierfür liegt in der Seinseinheit von Leib und Seele, im individuellen, konkreten Menschen. Durch diese erhält die Seele jene individuelle Besonderheit, die sie an ihren bestimmten Leib bindet, und nur an ihn. Diese naturhafte Zusammengehörigkeit besagt, dass es nie – nie! – einen Menschenleib, einen wirklichen Menschenleib ohne Seele gibt, aber auch nie eine Seele ohne einen Menschenleib. In diesem irdischen Leben sind der Leib und die Seele, man kann sagen schicksalhaft miteinander verbunden.

Und in diesem Sinne versteht man auch den Ursprung der Seele. Die Seele als geistiges Prinzip kann nicht von einem materiellen Prinzip ihren Ursprung haben. Sie kann also nicht gleichzeitig mit dem Körper oder aus dem Körper entstehen. Es bleibt nur die eine Möglichkeit, dass in dem Augenblick, in dem der menschliche Körper entsteht, eine Seele von Gott geschaffen wird, eine Seele von Gott diesem Körper eingeschaffen wird. Es gibt keine andere Lösung, als dass man an der alten, aber nicht veralteten Lehre festhält: Die menschliche Seele wird in dem Augenblick, in dem im Leibe der Mutter ein Menschlein entsteht, von Gott eingeschaffen, und dadurch geschieht es, dass ein individueller Leib und eine individuelle Seele von Anfang an zur Lebenseinheit verbunden werden.

Durch diesen individuellen Leib wird natürlich auch die individuelle Seele charakterisiert. Sie ist also individuell und selbständig nicht bloß dem absoluten Geiste, Gott, gegenüber, sondern auch gegenüber allen anderen Menschenseelen, mit denen sie keinerlei Einigung in einem alle einzelnen Seelen überhebenden oder zusammenfassenden überpersönlichen Geiste kennt. Jede einzelne Menschenseele ist ein substantielles geistiges konkretes Sein im konkreten Menschen.

Wenn es so ist, meine lieben Freunde, dann wissen wir, welche Sorgfalt wir auf Leib und Seele verwenden müssen, dass wir der Seele einen Leib zur Verfügung stellen, mit dem sie sich wirklich auswirken kann, und dass wir im Leibe das wirken, was die Seele erhöht, befruchtet und belebt, dass wir also in vollkommener Wirkeinheit das verwirklichen, was die alten Griechen – die ja Heiden waren – in dem Worte zusammengefasst haben: „Mens sana in corpore sano“ – eine gesunde Seele in einem gesunden Leibe.

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt