Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
26. Januar 2003

Das Dogma von der Vorsehung Gottes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Jeder religiöse Mensch hat ein Dogma, das im Mittelpunkt seines religiösen Lebens steht, so wie auch Jesus selbst ein Mittelpunkt-Dogma hatte. Dieses Mittelpunkt-Dogma war bei Jesus die göttliche Vorsehung. Er hat nicht in wissenschaftlicher Weise dieses Dogma formuliert, sondern wie er immer sprach, so daß die Menschen, auch die einfachen Menschen, es verstehen konnten, nämlich indem er redete vom „Vater im Himmel“, vom Vater im Himmel, ohne den kein Sperling vom Dache fällt, vom Vater im Himmel, der alle Haare des Hauptes gezählt hat, vom Vater im Himmel, der die Lilien des Feldes kleidet und das Gras auf dem Berge. Dieser Vater im Himmel ist ein liebender und besorgter Gott, der mit seiner Vorsehung das Weltgeschehen und das Leben des Einzelnen lenkt und leitet. Im Laufe des Kirchenjahres hören wir immer wieder diese trostvollen Evangelien von dem Vater, der für uns sorgt, der uns mahnt, nicht ängstlich zu sein – was werden wir essen, was werden wir trinken,, womit werden wir uns bekleiden? Der Vater im Himmel weiß das ja alles; er weiß, daß wir es notwendig haben.

Freilich, diese Verheißung weckt in uns auch eine gewisse Wehmut und Verwunderung; denn unsere Erfahrung scheint mit dieser Verheißung nicht übereinzustimmen. Wir erleben, daß unsere Gebete nicht erhört werden; der Mensch, den wir lieben, den wir brauchen, wird uns entrissen; das Gutgemeinte mißlingt und die Gutwilligen kommen zu kurz. So scheint die Erfahrung der Verheißung von dem sorgenden Vater zu widersprechen. Die Vorsehung Gottes, die über uns waltet, wird, so scheint uns, nicht immer durch die Erfahrung bestätigt. Der Beruf, den wir suchen, an den wir uns klammerten, bleibt uns verschlossen. Dennoch, meine lieben Freunde, müssen wir bedenken, daß wir wie eine Ameise im Walde sind. Eine Waldameise vermag die Wege, die der Mensch durch den Wald geschlagen hat, nicht zu begreifen. Sie hat ihr kleines, winziges Reich und überschaut nicht das Ganze. Wir können uns auch vergleichen mit einem taumelnden Kinde, das eben seine ersten Gehversuche macht. Es richtet sich an einem Stuhlbein auf, aber es versteht die Welt nicht. Es versteht die Wellen nicht, die in sein Zimmer schlagen von draußen.

Ähnlich ist es auch mit unserem Begreifen der Vorsehung Gottes. Die Welt ist so reich, so mannigfaltig; da drängen sich so viele Dinge im Raume, da ist so ein riesiges Feld des Wirklichen, daß es für uns unmöglich ist, es zu durchschauen, es zu überblicken, es zu kontrollieren. Es müßte uns eigentlich genügen, daß wir an einen Vater im Himmel glauben und daß wir an ihn die Bitte richten: Dein Wille geschehe! Das müßte uns eigentlich genügen. Dennoch wollen wir versuchen, einen Einblick in die Vorsehung Gottes zu gewinnen. Wir wollen einen Erfahrungssatz, einen Vernunftssatz und eine Glaubenssatz über die Vorsehung Gottes aufstellen.

An erster Stelle einen Erfahrungssatz. Unsere Erfahrung zeigt uns, daß riesige Mengen von Dingen da sind, daß Gott die Geschöpfe da sein läßt und wirken läßt, je nach ihrem Wesen und nach ihrer Anlage. Da sind die zahllosen unbelebten Dinge, die da wirken, die Kräfte der Elektrizität, der Spannung, der Stromstärke, die Kräfte des Mechanischen, die Kräfte der Chemie. Blitze zucken und Berge stürzen zusammen, Wasser rauschen vom Berge hinab ohne Rücksicht auf das, was sie niederreißen, Vulkane explodieren ohne Rücksicht auf die Hütten, die sie zerstören, die an den Berghängen gebaut sind. Die Dinge sind da, und Gott läßt sie auswirken nach den Gesetzen, die er gegeben hat, nach den ehernen Naturgesetzen. Diese Naturgesetze bilden ja ein Stück unserer Verlässigkeit, der Verlässigkeit unserer Welt. Und Gott läßt sie auswirken. Er läßt sie auch dann auswirken, wenn sie nach unserem Urteil Schaden und Unheil anrichten.

Dann sind die belebten Dinge, die belebten Dinge mit ihrem verwegenen, angstvollen Drang. Sie haben den Lebensdrang, den Drang zur Bewegung, den Drang zur Selbsterhaltung, den Drang zur Fortpflanzung, und den müssen sie auswirken, denn dieses Gesetz ist in sie hineingelegt. Ja, die belebten Dinge müssen vom Lebendigen leben. Sie selbst können ihr Leben nur erhalten, wenn sie anderes Lebendiges verzehren, verbrauchen, sich zuführen. Wir alle haben – und das ist ja eine der schönen Seiten des Fernsehens, nicht wahr – wir alle haben im Fernsehen die Tierfilme gesehen, wie die Wölfe über Tiere herfallen und sich so ihren Lebensunterhalt verschaffen. So ist es nach Gottes Willen geplant, daß ein Tier dem anderen zum Verbrauchen, zur Ernährung, zur Erhaltung dient. Dann ist da der Mensch, der Mensch, ein Wesen mit Leib und Seele, und aus dieser Verbindung von Leib und Seele quillt unser Glück und unsere Seligkeit. Da kommen aber auch die Spannungen und die Gefahren unseres Lebens her. Und dann ist der Mensch mit seiner Seele, mit seiner Seele, die selbstbestimmend ist, die eine Freiheit besitzt, und Gott will diese Freiheit und bejaht diese Freiheit und läßt den Menschen mit seiner Freiheit gehen. Er läßt ihn auch dann gehen, wenn er die Freiheit mißbraucht. Gott will es, daß der Mensch ein freies Wesen ist und daß er aus Freiheit seine Gebote erfüllt und sein Gesetz in sein Herz aufnimmt. Aber er läßt es geschehen, daß der Mensch mit seiner Freiheit Mißbrauch treibt und einen Weg geht, den er nicht will.

Die Zahl der Lebewesen ist unermeßlich. Wir sind nicht allein auf dieser Welt, und weil wir nicht allein sind, da drängen sich eben die Dinge, und deswegen ergänzen sie sich und bedrängen sich, verbinden sich und widersetzen sich. So ist es auf dieser Welt, daß Gott will, daß die Dinge da sind und daß sie miteinander ringen. Auch daß sie sich gegenseitig hemmen und verbinden. Das ist die Erklärung dafür, daß unsere persönlichen Wünsche oft so ohnmächtig erscheinen, auch wenn sie die Form von Gebeten annehmen, daß die Krankheiten nicht weichen, auch wenn wir es dringend ersehnen, daß der Regen nicht kommt oder nicht aufhört, so wie wir es wünschen und brauchen. Das ist die Erklärung dafür, daß wir einerseits in grauenerregender Ohnmacht in dieser Welt sind, und andererseits, daß wir eine Macht über diese Welt besitzen, die Gott uns gegeben hat. Das ist ein Erfahrungssatz. Das ist eine Erfahrung, die wir täglich machen können. So ist die Welt, und so erfahren wir sie.

Aber darüber erhebt sich ein Vernunftssatz. Gott will, daß die Dinge da sind und daß sie wirken. Das heißt aber auch, er bejaht sie. Gott liebt sie. Er hat sie aus Liebe geschaffen. Sie haben also einen Wert, sie haben einen Sinn, sie sind für etwas gut, sie sind für etwas nützlich. Selbst die Ratten und die Mäuse sind nach Gottes Willen zu etwas zu gebrauchen. Wir wissen, daß im äthiopischen Hochland sich die Wölfe, die äthiopischen Wölfe, von den dort vorfindlichen Ratten nähren. Alles, was ist, ist von Gott gewollt, hat einen Sinn, und so ist auch das Weltganze nicht sinnlos. Auch das Weltganze ist von Gott bejaht, hat nach Gottes Willen einen Sinn, einen Wert. Die Welt ist aus Liebe geschaffen und wird auch aus Liebe erhalten. Gott haßt nichts von dem, was er geschaffen hat. Die Welt besteht, weil sie Gott aus Liebe im Dasein erhält. Deswegen dürfen wir nicht an Gottes Vorsehung zweifeln oder verzweifeln. Gott bejaht die Dinge; er will, daß sie wirken; er meint es gut mit uns. Im Buch von der Nachfolge Christi, meine lieben Freunde, steht der schöne, ergreifende, vielleicht auch erschreckende Satz: „Alles, was du mit mir tust, das kann nicht anders als gut sein.“ Alles, was du mit mir tust, das kann nicht anders als gut sein. Ob er uns also in die Seligkeit und in die Freude führt, oder ob er über uns den Kummer und den Schmerz kommen läßt: es kann nach Gottes Willen nicht anders als gut sein. Wir dürfen an Gott nicht zweifeln; wir dürfen an seiner Vorsehung nicht verzweifeln. Weil alles nach Gottes Willen gut ist und gut werden soll, deswegen dürfen wir auch nichts verachten. Wir dürfen nichts hassen, wir dürfen nichts verneinen. Und wäre es auch das ärmste und verachtetste und elendeste Leben, auch dieses Leben ist in Gottes Augen noch ein Wert. Wenn Menschen ihr Leben auslöschen möchten, und wenn uns Gedanken überfallen: Ach, wenn ich doch tot wäre oder wenn ich doch Hand an mich legen könnte, wenn uns solche Gedanken überfallen, dann sind sie irrig, dann sind sie ein Irrtum, dann sind sie vor Gottes Vorsehung eine Lästerung. Wir müssen aushalten, wir müssen durchhalten, solange Gott es will. Die Vorsehung waltet über uns. Gott ist Vater; das heißt, er ist liebend und besorgt. Ob er uns in die Herrlichkeit führt oder ob er über uns das Leid kommen läßt: Gott ist Vater, Gott ist gut, gut ist alles, was er tut.

Wenn wir manchmal verhaltene Augen haben, wenn wir es nicht sehen, daß Gottes Güte über uns waltet, dann, meine lieben Freunde, mögen wir uns erinnern an ein schönes Wort, das der heilige Johannes Chrysostomus – ein leidgeprüfter Mann! – einmal gesprochen hat: „Gott hat nicht alles im Dunkel gelassen, damit du nicht behauptest, es gebe keine Vorsehung. Er hat aber auch nicht alles deiner Erkenntnis zugänglich gemacht, damit nicht die Höhe der Erkenntnis dich zu stolzer Selbstüberhebung verleite.“  Noch einmal: Gott hat nicht alles im Dunkel gelassen, damit du nicht behauptest, es gebe keine Vorsehung. Er hat aber auch nicht alles deiner Erkenntnis zugänglich gemacht, damit nicht die Höhe der Erkenntnis dich zu stolzer Selbstüberhebung verleite.

Die Vorsehung, ein Erfahrungssatz, die Vorsehung, ein Vernunftssatz, die Vorsehung aber auch drittens, ein Glaubenssatz. Am vergangenen Sonntag haben wir von der Gnade gesprochen. Die Gnade ist das neue Leben, das Gott uns verleiht. Die Gnade ist der neue Zustand, in dem die Gotteskinder sich befinden. Da zeigt sich Gott von einer anderen Seite als nur als Schöpfer. Als Schöpfer liebt er sein Werk, wie ein Werkmeister sein Werk liebt. Als Begnadiger liebt er seine Kinder, wie ein Vater sein Kind liebt. Das ist eine neue Dimension, das ist eine neue Wirklichkeit, das ist eine neue Erhöhung. Alles andere, die Schöpfung, ist nur gewissermaßen der Vorbau, der Vorzustand für den Zustand der Begnadung des Lebens im Heiligen Geiste. Da will Gott uns gewissermaßen zu Blutsverwandten machen; da will er uns in eine Seinsgemeinschaft, in eine Liebesgemeinschaft mit sich hineinrufen. Aus der Vorsehung des Schöpfers für sein Werk wird die Vorsehung des Vaters für seine Kinder. Alles legt er diesen Kindern zu Füßen. Die ganze Welt ist für die Menschen geschaffen. Das ist wahr: Die Welt, die Ströme und die Berge und die Blumen und die Tiere, sie sind für den Menschen geschaffen. Der Mensch ist tatsächlich die Krone der Schöpfung. Aber alles, was an Schöpfungswerken dem Menschen dienen soll, wird weit überboten durch die Freundschaft, die Gott dem Menschen gewährt, wenn er ihn in sein göttliches Leben hineinzieht, wenn er das Leben, das er selbst in sich führt, dem Menschen gleichsam zugänglich macht. Und wenn Gottes Liebe es verlangt oder erlaubt, dann freilich wirken sich auch an seinem Geliebten die Gesetze der Natur und die Gesetze der Geschichte aus. Es kann sein, daß Gott seinen Liebling auf einen Berg Tabor führt; es kann aber auch sein, daß er ihn auf einen Kalvarienberg versetzt. Es kann sein, daß Gott Berge schmelzen läßt vor seinen Lieblingen; es kann aber auch sein, daß Gott seine Lieblinge zermalmen läßt von Bergen, die über sie stürzen. Es kann geschehen, daß Gott seinen Lieblingen einen Becher der Freude reicht; es kann aber auch geschehen, daß er ihnen einen Becher der Bitterkeit reichen muß. Alles, wie es seine Liebe verlangt oder erlaubt.

Gott ist in jedem Falle der fürsorgende Vater. Daß wir an seiner Fürsorge nicht irre werden, dafür hat er uns das Beispiel seines Sohnes geliefert. Dieser sein Sohn war in der Verklärung auf dem Berge Tabor, aber dieser sein Sohn war auch ein blutender, ein verblutender Gekreuzigter auf dem Berge Golgotha. Wenn wir wissen wollen, wie Gottes Vorsehung ist, was sie dem Menschen tut, was sie ihm zumutet, dann müssen wir auf seinen Sohn Jesus Christus schauen. Wenn wir wissen wollen, worauf wir uns rüsten müssen, worauf wir uns gefaßt machen müssen, dann müssen wir auf Jesus Christus, den einzigen, den eingeborenen Sohn des Vaters, schauen. An ihm können wir ablesen, was uns erwartet, was Gott mit uns vorhat. Dieser Sohn Jesus Christus ist am Vater nicht irre geworden. Als er in Angst bebte, da hat er das wunderbare Wort gesprochen: „Könnte mein Vater mir nicht zwölf Legionen Engel senden, um mich aus dieser Gefahr zu erretten? Aber nicht wie ich will, sondern wir er will.“

Die Liebe Gottes begreifen, die Fürsorge Gottes begreifen, die Vorsehung Gottes begreifen, das kann nur ein liebender, ein gläubiger Mensch. Nur die Vertrauenden, die Gott mit Zuversicht als ihren Vater anerkennen, nur die Vertrauenden sind fähig, aufrichtig zu beten: „Alles, was du mit mir tust, kann nicht anders als gut sein. So also, mein Vater, soll dein Wille geschehen. Du wirst mich weiterführen über sumpfiges Moor, über lauernde Klippen, bis vorüber die Nacht und im Morgenlicht Engel mir winken. Ach, ich habe sie längst geliebt, nur vergessen für kurze Zeit.“

Amen.

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