Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
21. November 1999

Das geschichtliche Kirchenbild

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die Erscheinung der Kirche ist so reich und so vielfältig, daß es gar nicht möglich ist, in einem Augenblick oder durch einen Menschen alles in den Blick zu bekommen. Man braucht lange Zeiträume, um das volle Wesen der Kirche zu erkennen. Jedes Zeitalter arbeitet eine besondere Weise des Kirchenbildes heraus. Diese verschiedenen Kirchenbilder widersprechen sich nicht, denn sie sind nur verschiedene Seiten ein und derselben Wirklichkeit. Aber es ist doch so, daß in den verschiedenen Zeiträumen bestimmte Elemente der Kirche besonders hervortreten und andere zurücktreten. Wir wollen heute vier Zeitalter unterscheiden und versuchen, das jeweils Spezifische dieses Zeitalters herauszuarbeiten, nämlich die Urzeit bis zur konstantinischen Wende, das Mittelalter, die Neuzeit und die Gegenwart.

In der Frühzeit der Kirche lebte in der Kirche noch etwas von der Traulichkeit der Jüngergemeinschaft, vom Glück der Abendmahlsgemeinschaft. Die ersten Christen wußten, daß das Reich Gottes in Christus angebrochen ist, und sie waren die Auserwählten, die in dieses Reich berufen waren; sie wußten sich als Erben des Reiches. Sie waren eine Gemeinschaft der Gotteskinder und untereinander Brüder und Schwestern. „Seht, wie sie einander lieben“, so sagten die Heiden von den Christen der alten Zeit. Sie waren ein Herz und eine Seele, wie es die Apostelgeschichte erwähnt. Sie lebten im Glauben und in der Liebe. Der Glaube war nicht eine abgeblaßte Erinnerung oder ein ungern befolgter Imperativ; der Glaube war die Kraft ihres Lebens, und sie sahen diesen Glauben an Christus, an den lebendigen Gott, an das ewige Leben aufleuchten in den Martyrern, und Martyrer war damals ein jeder, konnte ein jeder sein, der Vater, die Mutter, die Kinder, die Priester, die Bischöfe, die Päpste. Durch ihr Zeugnis für Christus haben sie den Glauben gelebt und vor aller Welt bekannt. Die Liebe einte sie; sie waren eine vollkommene Gemeinschaft. Sie waren in der Liebe eine verschmolzene Gemeinschaft; weil die Umwelt feindlich war, gegen sie eingestellt war, mußten sie sich eng zusammenschließen und waren eine verschworene Gemeinschaft.

Freilich gab es auch damals schon Organisation. Die sogenannte charismatische Anarchie, von der irregeleitete Theologen faseln, hat es nie gegeben; die Kirche war immer organisiert. Sie war ein Liebesbund, wie es nach einem berühmten Wort des Heiligen Irenäus heißt. Sie war ein Liebesbund, aber dieser Liebesbund hatte eine Vorsitzende, das war die Gemeinde zu Rom. Jede Ortsgemeinde war geleitet von Presbytern mit dem Episkopen an de Spitze. Die Armenpflege war organisiert. Es gab schon Beamtentum und Bürokratie, weil das eben unvermeidlich für eine Gemeinschaft ist.

Man darf nicht einer Urkirchenromantik verfallen. Auch damals waren nicht alle gleich fest mit der Kirche verbunden. Nicht in allen war die Liebe gleich stark und nicht in allen der Glaube gleich mächtig. Nein, schon Paulus mußte gegen Ärgernisse Stellung nehmen; er mußte den Blutschänder in Korinth zurechtweisen. Es gab eine Gemeinde, die ungehorsam war, so daß der Bischof von Rom eingreifen mußte, nämlich die Gemeinde zu Korinth. Es gab Irrlehrer, die sich zusammenschlossen zu der gnostischen Bewegung. Ja, es gab eine Gegenkirche, die Kirche des Markion. Dennoch bleibt bestehen: Das Urkirchenerlebnis war eben das der Gotteskinder im Hause Gottes, im Reiche Gottes. Es war das Erlebnis derer, die von Glaube und Liebe erfüllt und bewegt waren.

Als dann die Kirche aus den Katakomben stieg und die Bischöfe in die Paläste einzogen, da wandelte sich das Bild der Kirche etwas; denn die weltlichen Gewalten wurden immer schwächer. Das Römische Reich siechte dahin, und da mußten die Päpste die Macht, die anderen Händen entfallen war, aufnehmen. Die Päpste waren die Retter vor den Barbaren, und sie waren die Hüter der Ordnung. Nicht nur in Rom war es so, auch anderswo schrieben die Bischöfe Gesetzestafeln und bestiegen sie die Richterstühle, und sie haben besser gewaltet als viele weltliche Herrscher. Das Volk hatte unter ihnen nicht zu leiden, sondern es wurde von ihnen getragen und geführt. Die Kirche spürte damals, daß sie den Beruf zur Führung und zur Fürsorge hatte. Und je mehr das Römische Reich dahinfiel und dann schließlich ganz unterging, um so mehr mußte die Kirche an seine Stelle treten. Sie war die einzige Macht, die in diesem allgemeinen Zerfall Standfestigkeit und Ordnung bewies, ja, sie war die Ordnungsmacht in der Zeit der Völkerwanderung. Und so gab es vom 5. Bis zum 7. Jahrhundert machtvolle Päpste und Bischöfe, Leo der Große, Gregor der Große; sie haben in Rom das Chaos gebannt. In dieser Zeit war es, wo Augustinus sein Buch vom Gottesstaat schrieb. Der Gottesstaat ist für Augustinus zunächst einmal die Gemeinschaft der Heiligen, der Makellosen, der Unbefleckten, und als solcher ist er unsichtbar. Aber der Mensch sehnt sich ja immer nach dem Sichtbarwerden des Unsichtbaren, und so gibt es auch ein Sichtbarwerden des unsichtbaren Gottesstaates, und dieses Sichtbarwerden ist die Kirche. Sie ist es, in der sich die Glieder des Gottesstaates versammeln und den Kampf mit dem Weltstaat, mit der Macht der Finsternis aufnehmen. Die Kirche wuchs zur höchsten Gewalt auf Erden heran. Es entstand die berühmte Lehre von den zwei Schwertern. Es gibt zwei Schwerter, so lehrten die Theologen und Kanonisten, also zwei Machtbefugnisse. Die eine Machtbefugnis, das eine Schwert wird von der Kirche unmittelbar geführt; das ist die geistliche Gewalt, die Lehrgewalt, die Hirtengewalt. Das andere Schwert wird von der weltlichen Gewalt geführt, aber sie muß es so führen, daß sie es zum Nutzen und Frommen der Kirche führt. Die Kirche, der Papst vergab die Königreiche. Der Papst erneuerte das Kaisertum. Am Weihnachtsabend 800 krönte er den fränkischen König Karl zum Römischen Kaiser. Jawohl, der Papst ließ Menschen die Königsstufen hinaufsteigen und herabsteigen. Er war die höchste Gewalt auf Erden, und das ist das Kirchenbild des Mittelalters, die vollkommene Einung unter einem Zepter; damals war sie erreicht. Die höchste Gewalt des Papstes war es, die die gesamte Christenheit regierte. Und die Päpste wußten um diese Stellung. Der Papst Siricius schrieb im Jahre 385: „Wir müssen einen größeren Eifer für die christliche Religion haben, denn wir sind beladen mit der Last von allen.“ Wir sind beladen mit der Last von allen. Das ist die Weltführerschaft, die dem Papst Siricius offenkundig vor Augen stand.

Dem Mittelalter folgte die Auflösung durch die beginnende Neuzeit. Es bildeten sich Nationalstaaten, vor allem Frankreich, England, und diese Nationalstaaten strebten nach Unabhängigkeit vom Kaisertum. Sie wollten nicht mehr dem Kaisertum untergeordnet sein. Sie warfen die Oberherrschaft des Kaisers ab, und was sie im weltlichen Bereich taten, das übertrug sich auf den geistlichen Bereich. Sie gingen auch gegen die Souveränität des Papsttums an. Von den Königen pflanzte sich diese Bewegung fort auf Städte und Rechtsgelehrte, ja auf jeden Menschen. Das Individuum reklamierte seine sogenannte Freiheit. Die eigene Einsicht, das eigene Gewissen, der eigene Wille sollten regieren. Das Zeitalter der Entdeckungen gab dem Einzelnen gewaltigen Auftrieb. Die Humanisten spotteten über die Autoritäten. So zog der Individualismus heran. Der Individualismus ist jene Weltanschauung, nach der der Einzelne keine Macht über sich hat. Er selbst bestimmt, was sittlich gut und böse ist; er ist sich selbst Gesetz. Selbstzweck und Selbstgesetzlichkeit sind die Kennzeichen des Individualismus. Und er machte nicht halt auf dem Gebiete des Weltlichen; er griff auf das Gebiet des Geistlichen über. Wir wissen, daß die sogenannten Reformatoren zunächst angeblich die Verweltlichung der Kirche bekämpften, in Wirklichkeit ihre Macht über alle Dinge, die sie eben kraft der geistlichen Gewalt, kraft ihrer Lehrvollmacht besitzt. Die Fürsten griffen diese Botschaft begierig auf. Das war die Botschaft, auf die sie gewartet hatten, daß sie der geistlichen Gewalt in weltlichen Dingen nicht untergeordnet seien. Und so behandelten sie zunächst die weltlichen Angelegenheiten so, als ob sie nicht unter der geistlichen Gewalt stünden und griffen dann auch auf das geistliche Gebiet über. Sie warfen die Autorität des Papstes und der Bischöfe ab. Es kam dazu, daß das furchtbare Wort entstand: „Cuius regio, eius religio“, das heißt: Der Landesherr bestimmt die Religion. Der Religion, die der Landesherr angibt, müssen seine Untertanen folgen. Das war das Ergebnis der sogenannten Reformation. Und so haben in unseren Breiten manche Länder fünfmal die Religion gewechselt, zum Beispiel die Pfalz, einmal lutherisch, einmal reformiert, dann wieder lutherisch, dann wieder reformiert; so ging es hin und her. Wessen das Land, dessen die Religion.

In dieser Zeit mußte die Kirche handeln. Sie mußte ihre Autorität stärken, die ja immer in ihr gewesen war, aber auf die sie sich nun in besonderer Weise besann. Schon Bonifaz VIII. hatte in der Bulle „Unam Sanctam“ den Satz formuliert: „Wir erklären, sagen, bestimmen und verkünden, daß es für jede Kreatur zum Heile notwendig ist, dem Papst untergeben zu sein.“ Das ist kein aus mittelalterlicher Verbohrtheit stammender Satz, das ist ein Satz, der heute noch gilt. Wir erklären, bestimmen, verkünden und sagen, daß es für jede Kreatur zum Heile notwendig ist, dem Papst untergeben zu sein. Das ist eine logische Folgerung aus dem Kirchenbild. Wenn Gott will, daß alle sich in der Kirche sammeln, und wenn die Kirche ein Oberhaupt hat, und wenn dieses Oberhaupt geistliche Gewalt besitzt, dann ist es klar, daß eine jegliche Kreatur sich diesem Oberhaupt unterwerfen muß um des Heiles willen.

Die Kirche also besann sich jetzt auf ihre Autorität. Es trat jetzt deutlicher hervor der Unterschied zwischen hörender und lehrender Kirche. Das ist ein Unterschied, den man gerne vernichten möchte, den Luther zu vernichten versucht hat, den Unterschied zwischen hörender und lehrender Kirche. „Alles, was aus der Taufe gekrochen ist, ist Bischof, Papst und Priester“, so sagt Luther. Nein! Es gibt einen Unterschied zwischen hörender und lehrender Kirche. Es gibt ein Hirtenamt und ein Lehramt. Und an die Weisungen dieses Hirten- und Lehramtes sind alle, wenn immer es richtig nach Gottes Willen lehrt und handelt, gebunden. Das ist eine Erkenntnis, die damals besonders hervorgetreten ist. Sie war immer in der Kirche, aber sie ist in der Notzeit der sogenannten Reformation ans Licht getreten und hat sich bis heute durchgehalten.

Es begann damals auch eine stärkere – nun muß ich dieses ungern gehörte Wort gebrauchen – eine stärkere Zentralisierung. Selbstverständlich mußte die Kirche jetzt alles vom Mittelpunkt her anfassen, alles auf den Mittelpunkt hin bewegen. Denn vom Mittelpunkt, vom Papsttum her mußten die zentrifugalen Kräfte zusammengehalten werden. Es blieb der Kirche gar nichts anderes übrig, als das Zentrum, also den Mittelpunkt, das Papsttum, zu stärken. Wenn heute gegen den Zentralismus gewettert wird, dann kann ich nur lachen. Was da als Popanz aufgebaut wird, das ist eine bittere Notwendigkeit. Wenn wir den Bischöfen ausgeliefert wären, wären wir schon längst im Protestantismus! Nein, diese Bindung an das Papsttum ist unser letzter Schutz vor Willkür, Feigheit und Trägheit von Bischöfen. Wir brauchen das Zentrum, und wir können nicht ohne das Zentrum sein. Wenn es den Papst nicht gäbe, müßte man ihn erfinden.

Die letzte Auswirkung des Individualismus war dann der Subjektivismus. Subjektivismus besagt, daß der Einzelne alles von seinem Bewußtsein aus beurteilt. Er mißt alles nach seinen Bewußtseinszuständen. Es gibt keine Objektivität, sondern es gibt nur wechselnde und sich widersprechende Bewußtseinszustände. Weil sie wechseln und sich widersprechen, deswegen endet der Subjektivismus immer im Relativismus. Danach ist alles gleich viel oder besser gleich wenig wert. Das ist die Lage, in der wir heute stehen. Subjektivismus und Relativismus sind die großen Häresien der Gegenwart. Dagegen muß sich die Kirche auf das Objektive besinnen, auf die Wirklichkeit außer uns, die uns vorgegeben ist, an die wir uns anpassen müssen und die wir nicht nach unseren Bewußtseinszuständen modeln können. Objektiv ist der Glaube. Es kommt nicht da auf ein Gefühl an, wie Schleiermacher sagte. Glaube ist in Glaubenssätzen formuliert. Glaube ist Übergabe an Gott, gewiß, im Vertrauen und in Zuversicht, aber Glaube ist ebenso Bekenntnisglaube, dogmatischer Glaube, ist Fürwahrhalten von wahren Sätzen. Objektiv sind die Sakramente. Es kommt nicht auf die Würdigkeit des Spenders an. Auch ein unwürdiger Spender kann die Sakramente gültig und für die Empfänger fruchtbar vollziehen. Objektiv ist der Gottesdienst. In der Mitte des katholischen Gottesdienstes steht eine Opfertat eines anderen, die Opfertat Jesu Christi. Die Erbauung des einzelnen ergibt sich aus diesem objektiven Geschehen. Objektiv ist das Kirchenrecht, dem sich der Einzelne zu fügen hat, weil es eben die Ordnung in der Gemeinschaft garantiert. Wenn die Kirche heute eine Chance hat, dann besteht sie darin, nicht dem Subjektivismus und dem Relativismus nachzugeben, sondern die Objektivität hochzuhalten. Das Objektive muß in unserer Kirche wieder den entscheidenden Rang gewinnen.

Die Kirche hat in ihrer zweitausendjährigen Geschichte Phasen des Niedergangs und des Abfalls durchgemacht, aber sie ist bestehen geblieben. Die Kirche hat mit unwürdigen Gliedern zu kämpfen gehabt, aber sie hat sich als Stätte der Heiligkeit durchgehalten. Ganze Länder sind ihr entrissen worden, aber sie ist bestehen geblieben. Man spricht von den Schäden der Kirche, von den Verbrechen, die Kirchenglieder angerichtet haben. Natürlich gibt es das; aber nicht deswegen, weil sie in der Kirche waren, sondern obwohl sie in der Kirche waren. Sie haben sich eben nicht an das gehalten, was die Kirche lehrt. Sie haben im Gegensatz zu den Weisungen und Ordnungen der Kirche gehandelt.

Die Kirche ist deswegen so leicht der Schäden zu bezichtigen, weil sie ihre Ideale so hoch steckt. Wo das Böse am schärfsten bekämpft wird, da tritt es auch am deutlichsten hervor. Wer das Böse gut nennt, wie es andere Religionen tun, der entzieht sich der Aufgabe, das Böse zu bekämpfen. Wer die Ehescheidung ohne weiteres zuläßt und die Wiederverheiratung gestattet, der braucht sich nicht aufzuhalten, wenn sich Ehepaare scheiden lassen und die Geschiedenen sich wieder verheiraten, wie es der Protestantismus tut. Die Kirche hat auch die Schismen überstanden. Von 1378 bis 1417 zerriß das große abendländische Schisma die Kirche. Es gab zwei, zeitweise drei Männer, die den Anspruch erhoben, Papst zu sein. Die Kirche ist damit fertiggeworden. So wunderbar war ihre Organisation, so fest die Idee des Papsttums, daß diese Zerrissenheit nur ihre Unteilbarkeit bewiesen hat.

Napoleon wurde nach seinem Sturz auf die Insel Helena verbannt. Er besuchte dort gern einen Felsen, der über das Meer vorsprang und verharrte dort still und regungslos. Eines Tages war er wieder auf diesem Felsen, und da begann die Ave-Glocke zu läuten. Napoleon versank in tiefes Nachdenken. Dann sprach er zu seinem Begleiter: „Die Völker gehen dahin, die Throne stürzen zusammen, die Kirche allein bleibt.“

Amen.

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