Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
7. November 1999

Der Schöpfer der natürlichen und übernatürlichen Ordnung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Für das Christentum ist die Unterscheidung zwischen dem Schöpfer der natürlichen und der übernatürlichen Ordnung grundlegend. In Gott ist alles einfach, aber wir müssen in Gott unterscheiden: Gott als Schöpfer der Naturordnung und Gott als Schöpfer der Gnadenordnung. Über diesen grundlegenden Unterschied wollen wir heute nachdenken.

An erster Stelle müssen wir fragen: Was ist denn Natur im theologischen Sinne? Natur im theologischen Sinne ist alles, was aus seinen eigenen Kräften lebt, was nach seinen eigenen Prinzipien geformt ist, was nach seinen eigenen Gesetzen dem Ziele zustrebt. Natur in diesem Sinne ist zunächst einmal alles, was Gott geschaffen hat, die Welt und alles, was darin ist. Aber Natur in diesem Sinne ist auch alles, was der Mensch mit seinem Geist und mit seiner Hände Arbeit aus den vorgefundenen Wirklichkeiten gestaltet. Natur ist, um es noch einmal hervorzuheben, das, was aus seinen eigenen Kräften lebt. Diese Natur ist von Gott geschaffen und nimmt deswegen teil an der Herrlichkeit Gottes. „Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre“, so heißt es im 18. Psalm, und so ist es auch wahrhaftig. Die Himmel geben Zeugnis von der Macht, von der Herrlichkeit, von der Größe und von der Göttlichkeit Gottes. Aber die Geschöpfe, also alles das, was wir als Natur bezeichnen, geben nur Kunde vom Äußeren Gottes. Sie künden nur etwas vom Außenleben Gottes. Sie führen uns nicht in das Innerste Gottes, in sein Innenleben hinein. Das Göttlichste Gottes, um es so zu sagen, wird durch die Naturordnung uns nicht kundgemacht, also seine gnädige Gesinnung, sein dreipersönliches Leben, seine Vergebungsbereitschaft; das alles scheint in der Schöpfungsordnung nicht oder höchstens ganz undeutlich auf.

Gott aber hat gewollt, daß die Natur auch an seinem Innenleben teilnimmt. Er wollte, das ist unser zweiter Punkt der Betrachtung, die Natur übernatürlich erhöhen.. Er wollte, daß die Natur in das Übernatürliche hineingerufen wird, oder umgekehrt daß das Übernatürliche in die Natur hineingesenkt wird. Er wollte, daß vor allem der Mensch am dreipersönlichen Leben Gottes teilnimmt. Diese Teilnahme nennen wir das Übernatürliche. Übernatürlich ist alles das, was über die Natur hinaus lebt, was sich aus dem Wesen, aus den Kräften, aus den Entfaltungen der Natur nicht ergibt. Da aber das Übernatürliche seinen Grund in Christus hat, muß man sagen: Übernatürlich ist das Leben in Christus. Wenn wir vom Übernatürlichen sprechen, dann meinen wir das Sein in Christus.

Das Übernatürliche ist dem Natürlichen überlegen, weil es uns eben höher hineinführt in Gottes Wesen; es steht gewissermaßen über dem Natürlichen. Und doch besteht zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen ein Zusammenhang. Gott hat nicht zuerst die Naturordnung geschaffen und dann das Übernatürliche hinzugefügt, sondern er hat von vornherein beabsichtigt, die Natur übernatürlich zu erhöhen. Er hat nur eine Ordnung im Sinn gehabt, nämlich die übernatürlich erhöhte Natur. Er wollte von vornherein, daß alles, was natürlich ist, übernatürlich erhöht wird. Die übernatürlich erhöhte Natur ist das Ziel seiner Schöpfungsgedanken. Er hat die Natur gewissermaßen nur geschaffen, damit sie übernatürlich erhöht werden kann. Die übernatürlich erhöhte Natur ist das Erstgewollte und das Erstintendierte in seiner Schöpfungsplanung.

Man darf sich Natürliches und Übernatürliches nun nicht falsch vorstellen, als ob das zwei Stockwerke wären. Nein, das Übernatürliche geht in das Natürliche ein, und zwar so, daß es das Natürliche verwandelt und erhebt. Es zerstört die Natur nicht, es setzt die Natur voraus, aber es erhöht und vollendet sie. Das Übernatürliche kommt über die Natur als ein neues, eigenschaftliches Sein, als eine neue Existenzweise. Wir alle kennen ja den Begriff „heiligmachende Gnade“. Nichts anderes ist damit gemeint. Das ist die neue, übernatürliche Existenzweise. Das Übernatürliche begründet eine neue Beziehung zu Gott und eine neue Zuständlichkeit. Wir sprechen, wenn wir von einer neuen Beziehung zu Gott reden, von der Freundschaft Gottes, von der Liebe Gottes. Das sind vertraute Begriffe. Die neue Zuständlichkeit ist die heiligmachende Gnade, ist der Glanz unserer Seele, wenn wir in der heiligmachenden Gnade leben. Das ist, meine lieben Freunde, um noch einmal anzuknüpfen an das am Allerheiligentage Gesagte, ein entscheidender Unterschied zu den protestantischen Vorstellungen. Wenn der Protestant von Gnade spricht, dann meint er damit die gnädige Gesinnung Gottes. Das ist nicht falsch, aber es ist nicht zureichend. Gnade ist eben nicht nur die neue Verbundenheit mit Gott, die neue Beziehung zu Gott, sondern Gnade ist auch ein neues, eigenschaftliches Sein im Menschen; es gibt eine sogenannte geschaffene Gnade, das ist die neue Wirklichkeit, die heiligmachende Gnade, die der Seele anhaftet. Und gerade diese gibt der Protestantismus nicht zu. Deswegen kann er dann die Formel gebrauchen: zugleich Sünder und Gerechter. Der Mensch wird eben nicht wirklich innerlich geheiligt, sondern es werden ihm zwar die Sünden vergeben, aber er bleibt Sünder. Diese Dialektik ist katholischem Denken völlig unvertraut und, wie wir überzeugt sind, auch zweifellos nicht richtig. Nein. Das Übernatürliche begründet eine neue Zuständlichkeit und eine neue Beziehung zu Gott. Wir werden Gott ähnlich, und wir werden Gott verbunden; beides gehört zusammen.

Wenn die Gnade oder das Übernatürliche die Natur nicht zerstört, sondern erhöht und vollendet, dann bedeutet das, daß die menschliche Natur auch in das Übernatürliche so eingeht, wie sie ist. Es wird also das Übernatürliche anders aufgenommen werden vom Kind als vom greisen Menschen. Das Übernatürliche wird anders sein in einem Germanen als in einem Slawen. Wir verstehen jetzt vielleicht, daß die Päpste je nach ihrer Herkunft verschieden regieren. Wenn ein Slawe – wie jetzt – auf dem päpstlichen Thron sitzt, dann wird er die Aufgabe der Regierung anders auffassen als ein Italiener, also als ein Romane. Das ist die Auswirkung des Grundsatzes: Die Gnade zerstört nicht die Natur, sondern sie erhebt und vollendet sie.

Diese Unterscheidung von Natürlichem und Übernatürlichem ist ganz grundlegend für unser Leben. Wenn man nämlich Natürliches und Übernatürliches auseinanderreißt, dann fallen Glaubensleben und praktisches Leben auseinander. Wenn man sie aber im Zusammenhang sieht, dann begreift man, daß das Übernatürliche in unserem tätigen Leben wirksam werden muß. Wenn der heilige Apostel Paulus im heutigen Kolosserbrief uns verkündet: „Tut alles, was ihr tut, in Wort oder Werk, zur Ehre Gottes!“, dann ist genau das gemeint, was mit dem Hineinsenken des Übernatürlichen in das Natürliche gemeint ist, nämlich wir sollen das Übernatürliche in unser tätiges Leben hineintragen, wir sollen aus dem Übernatürlichen unser natürliches Leben gestalten. Wir sollen wirken als neue Menschen, und diese Neuheit soll sich in unserem Wirken kundtun.

Gott ist der Schöpfer der Naturordnung. Gott ist auch der Schöpfer der Gnadenordnung. Beide Ordnungen gehören untrennbar zusammen. Es gibt keine reine Natur; immer hat Gott schon beabsichtigt, das Natürliche übernatürlich zu erheben. Es ist das auch keine stockwerkartige Wirklichkeit, wo eines über dem anderen steht, sondern das Natürliche wird vom Übernatürlichen ergriffen und durchwirkt, und das Übernatürliche senkt sich ein in das Natürliche. Das ständig zu bewirken, darin immerfort zu wachsen, das ist unsere heilige Aufgabe.

O Gott, du Vater des Erbarmens, gib, daß wir den Geist der Kindschaft, in dem wir deine Kinder heißen und sind, immer in Treue bewahren.

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt