Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
6. September 1998

Die Pflicht, Sünder zurechtzuweisen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir waren dabei, die Pflichten zu bedenken, die wir gegen den Nächsten haben. Wir sprachen von der Nächstenliebe und von der Gerechtgkeit. Heute will ich von einer Pflicht reden, die unter den Werken der geistlichen Barmherzigkeit aufgezählt wird. Die Werke der geistlichen Barmherzigkeit lauten: Unwissende belehren, Zweifelnden recht raten, Sünder zurechtweisen, Unrecht geduldig leiden, Beleidigern gern verzeihen, Betrübte trösten, für Lebende und Verstorbene beten. Eine der wichtigsten von diesen Taten der geistlichen Barmherzigkeit lautet: Sünder zurechtweisen.

Wir haben die Pflicht, für das Seelenheil des Nächsten zu sorgen. Diese Pflicht umfaßt viele einzelne Aufgaben in unserem engeren Kreise, aber auch darüber hinaus. Wir müssen für die Verbreitung des Glaubens und für den sittlichen Hochstand unseres Volkes besorgt sein; wir müssen alle Unternehmungen unterstützen, welche die Welt Christus unterwerfen wollen. Das alles ist fraglos. Aber eine Aufgabe ist uns ganz nahe, und die lautet: Sünder zurechtweisen. Wir wollen vier Fragen stellen und sie zu beantworten suchen, nämlich

1. Wen sollen wir zurechtweisen?

2. Wann sollen wir zurechtweisen?

3. Wer soll zurechtweisen?

4. Wie sollen wir zurechtweisen?

Die erste Frage lautet: Wen sollen wir zurechtweisen? Nun, darauf ist die Antwort nicht so schwer: die Sünder. Wir sollen zurechtweisen die Sünder; natürlich an erster Stelle die Sünder, die schwere Sünden begehen. Die schweren Sünden sind bekannt. Wir haben soeben im Galaterbrief eine Aufzählung der Sünden, die vom Reiche Gottes ausschließen, gehört. Die brüderliche oder schwesterliche oder väterliche Zurechtweisung hält dann eben dem Sünder die Sünde vor, und zwar nicht nur dem Sünder, der schon gesündigt hat, sondern auch dem, der in Gefahr ist zu sündigen und der sündigen würde, wenn er nicht gewarnt würde. Brüderliche und schwesterliche oder väterliche und mütterliche Zurechtweisung ist also die Warnung und die Abmahnung eines Menschen, der schwer gesündigt hat oder in Gefahr steht, eine schwere Sünde zu begehen.

Nicht immer sind es nur bewußte Sünden, die wir rügen sollen. Es gibt auch Sünden, die infolge von schuldhafter Unwissenheit begangen werden. Viele Menschen sind religiös und sittlich wenig gebildet, haben sich nicht bemüht, Gottes Willen zu erkennen und zu erforschen, und so tun sie Dinge, die nach Gottes Gesetz unerlaubt sind. Da ist die Zurechtweisung besonders gefordert; da müssen wir die Menschen aufklären über den Willen Gottes, denn die Menschen sollen, damit sie selbst und die Erde einen heilvollen Verlauf nehmen, Gottes Willen kennen und sich nach ihm richten. Auch bei unentschuldbarer Unwissenheit kann es Pflicht sein, den anderen über seine Sünde zu belehren. Sünder zurechtweisen betrifft zunächst also die schwere Sünde. Aber wir alle wissen, daß leichte Sünden zu schweren werden können. Es ist uns bekannt, daß, wenn man nicht aufpaßt, das Gewissen immer schlaffer wird.  Heute läßt man einen Grund zum Versäumnis der Sonntagsmesse gelten, der morgen schon weit übertroffen wird durch einen noch viel geringeren Grund. Deswegen ist es notwendig, kann es notwendig sein, auch bei läßlichen Sünden eine Zurechtweisung zu üben. Das ist ja das Prinzip, das die Polizei von New York beachtet. Sie sagt, man muß die kleinen Vergehen ahnden, damit nicht größere geschehen. Wenn irgendwo eine Fensterscheibe zerbrochen ist, muß man dafür sorgen, daß sie sobald wie möglich wieder ersetzt wird, denn eine zerbrochene Fensterscheibe reizt dazu, die nächste zu zerstören. O wie weise sind die New Yorker Polizisten! Sie haben etwas gelernt, was wir an uns selbst beobachten können: Wir gelangen von läßlichen zu schweren Sünden, wenn wir uns nicht selbst mahnen oder von anderen warnen lassen.

Die zweite Frage lautet: Wann sollen wir Zurechtweisung üben? Nun, an erster Stelle ist erfordert, daß das Vergehen des anderen gewiß ist oder daß die Gefahr, in der er schwebt, uns wohlvertraut ist. Wir brauchen nicht eigens nachzuforschen, aber wenn wir Kenntnis erlangen, dann ist eine der Voraussetzungen gegeben, daß wir die Zurechtweisung üben. Wir müssen die Zurechtweisung üben, wenn ein anderer nicht vorhanden ist, der sie an unserer Stelle vornehmen will. Sie wissen ja, meine lieben Freunde, wer nimmt schon dieses unangenehme Geschäft gern auf sich, einen anderen zurechtzuweisen? Die meisten Menschen wollen sich keine Unannehmlichkeiten schaffen; sie wollen sich nicht in Konflikte bringen; sie wollen keine Auseinandersetzungen haben, und so schweigen sie, wo sie reden müßten, und machen sich dadurch mitschuldig an fremden Sünden. Wer zu fremden Sünden schweigt, obwohl er reden müßte, der wird mitschuldig an der Sünde, die der andere begeht. Also: Wenn kein anderer Geeigneter vorhanden ist, dann müssen wir reden, dann ist es an uns, die Zurechtweisung zu üben. Wir dürfen gewiß fragen, ob die Zurechtweisung Erfolg haben wird, bevor wir damit beginnen, aber man sollte sich nicht zu schnell von der Pflicht zur Zurechtweisung dadurch entlastet fühlen, daß man sagt: Es hat ja keinen Zweck. Wir wissen nicht, wie wir die Gewissen ritzen. Wir wissen nicht, wie der andere in einer ruhigen Stunde über die Zurechtweisung denkt, die wir ihm haben zuteil werden lassen.

Man macht heute manchen Bischöfen aus der Zeit des Dritten Reiches Vorwürfe, weil sie versucht haben, dem Hitler ins Gewissen zu reden. Der Kardinal Faulhaber fuhr im Jahre 1936 auf den Obersalzberg und hatte ein mehrstündiges Gespräch mit Hitler. Der Weihbischof Eberle von Augsburg versuchte ebenfalls, im persönlichen Gespräch auf ihn einzuwirken. Man sagt: Es war alles vergeblich. Ich bin anderer Ansicht. Das nationalsozialistische System hätte der Kirche noch weit mehr Schaden zufügen können, als es getan hat, wenn es gewollt hätte. Es ist sicher manches atmosphärisch durch diese Gespräche verhütet worden, was wir nicht ermessen können, was nur Gott weiß. Deswegen soll man sich nicht zu schnell durch die angebliche Aussichtslosigkeit von der brüderlichen, schwesterlichen, väterlichen oder mütterlichen Zurechtweisung dispensiert halten.

Wer – ist die dritte Frage – muß die Zurechtweisung üben? Nun, an erster Stelle selbstverständlich jeder, der als Vorgesetzter über andere gestellt ist. Ein Dienstherr, ein Bischof, ein Gruppenleiter in einem Büro, die müssen die Zurechtweisung üben. Eine besondere Pflicht obliegt selbstverständlich den Priestern, den Predigern, den Beichtvätern. Sie müssen reden, auch wenn ihre Worte wenig Anklang finden oder wenn sie fürchten, daß diese Worte eine gereizte Reaktion hervorrufen können. Sie haben die Pflicht der Zurechtweisung, und sie verfehlen sich gegen diese Pflicht, wenn sie die Zurechtweisung nicht üben. Auch Lehrer, Erzieher, Eltern sind verpflichtet, die Zurechtweisung zu üben. Die ihnen Anvertrauten warten darauf und bedürfen ihrer Weisung, bedürfen auch ihrer Zurechtweisung.

Daß Vorgesetzte andere zurechtweisen müssen, leuchtet uns ein. Aber die Zurechtweisungspflicht trifft alle, auch die Untergebenen. Auch Untergebene müssen, wenn sie ihre Vorgesetzten sündigen oder in der Gefahr, zu sündigen, sehen oder wenn sie bemerken, daß sie dem Gemeinwohl großen Schaden zufügen, vor diese Vorgesetzten hintreten und ihnen ihre Fehler vorhalten. So hat es der Prophet Nathan vor David getan. Als David den Ehebruch begangen hatte mit der Frau des Urias und deren Mann hatte umbringen lassen, indem er ihn an der Front an eine gefährdete Stelle sandte und ihn dann ohne Schutz ließ, da trat der Prophet Nathan vor ihn hin und erzählte das wunderbare Beispiel von dem reichen Manne, der viele Schafe hatte. Aber als ein Gast kam, da nahm er dem, der nur ein Schaf hatte, das einzige Schaf weg. Der König war erzürnt. „Wer ist der Mann? Er soll bestraft werden!“ Da entgegnete Nathan: „Der Mann bist du!“ Im Neuen Testament erfahren wir von der Zurechtweisung des Königs Herodes durch Johannes den Täufer. „Es ist dir nicht erlaubt, die Frau deines Bruders zu haben!“ Diese Zurechtweisung hat ihm den Tod eingebracht, denn die Rache der Frau ereilte ihn bei einem Geburtstagsfest. Wir haben also die Pflicht, auch als Untergebene Zurechtweisung zu üben. Es macht uns keine Freude, meine lieben Freunde, Bischöfe wegen ihres Versagens und ihrer Versäumnisse anzuklagen. Es macht uns keine Freude! Aber wir haben die heilige Pflicht, das, was uns von der Kirche an Kenntnissen und an Wissen anvertraut ist, in dieser Weise einzusetzen, wenn wir sehen, daß dem Gemeinwohl der Kirche durch Tun oder Unterlassen von Bischöfen schwerer Schaden zugefügt wird. Im privaten Verkehr haben wir die Pflicht der Zurechtweisung gegenüber jedem, der uns irgendwie anvertraut ist, Verwandten, Bekannten, Arbeitskollegen, Nachbarn, sie alle können Personen sein, gegenüber denen wir die Pflicht der Zurechtweisung üben müssen.

Freilich, und das ist jetzt die vierte Frage: Wie sollen wir es denn machen, wenn wir Zurechtweisung üben? Meine lieben Freunde: Immer in Liebe, in Milde, in Klugheit und mit Takt. „Der herbste Tadel läßt sich ertragen“, schreibt einmal Marie von Ebner-Eschenbach, „wenn man fühlt, daß derjenige, der tadelt, lieber loben möchte.“ Ein wunderbares Wort. Der herbste Tadel läßt sich ertragen, wenn man fühlt, daß derjenige, der tadelt, lieber loben möchte. Also: Man darf die Zurechtweisung nicht von oben herab auf den anderen kommen lassen, nicht im Gefühl der Überlegenheit. Sie muß aus einer gewissen Solidarität kommen. Man muß spüren, daß der, der die Zurechtweiung übt, eigentlich darunter leidet, daß er sie üben muß, daß es ihn etwas kostet, die Zurechtweisung zu üben, daß er sich deswegen nicht über den anderen erhebt, sondern sich mit ihm solidarisch weiß, weil er selbst ein Sünder ist. Wenn wir in dieser Weise zu den Menschen kommen, dann kann man ihnen schon die Wahrheit sagen. Man muß sie ihnen sagen gewissermaßen als ein Verbündeter, als einer, der mit ihnen vertraut und verbunden ist und der deswegen die Zurechtweisung zu ihrem eigenen Nutzen ihnen unterbreitet. Wer die Zurechtweisung übt, will ja den anderen nicht treffen, er will sich nicht an ihm rächen, sondern er will ihm helfen; er will ihn aus seiner Sünde herausreißen oder vor einer Sünde bewahren. Er muß ja einmal im Gerichte für seinen Bruder, für seine Schwester, für seinen Angehörigen, für seine Anvertrauten Rechenschaft legen, und da soll er sagen können wie der Heiland: „Keinen von denen, die du mir gegeben hast, habe ich verloren.“

Jetzt wissen wir also, meine lieben Freunde, was wir zu tun haben, wenn wir brüderliche, schwesterliche, väterliche oder mütterliche Zurechtweisung üben. Wir sollen sie üben, wenn es erforderlich ist, wenn kein besser Geeigneter vorhanden ist. Wir sollen sie üben im Geiste der Solidarität und der Verbundenheit. „Wer einen Sünder von seinem Irrweg abbringt, rettet seine Seele vom Tode und deckt eine Menge Sünden zu.“ So schreibt der Apostel Jakobus in seinem Briefe. Wer einen Sünder von seinem Irrweg abbringt, der rettet seine Seele vom Tode und deckt selbst eine Menge Sünden zu.

Amen.

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