Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
8. Mai 1994

Das falsche Verständnis der Rechtfertigung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir hatten uns vorgenommen, das Konsensdokument „Lehrverurteilungen – kirchentrennend?“ zu betrachten, um daraus Erkenntnisse für unser Verhalten in der gegenwärtigen Lage der Kirche zu gewinnen. Wir haben heute die darin besprochene Lehre von der Rechtfertigung zu behandeln.

Rechtfertigung – was ist denn das? Nun, einfach ausgedrückt: Rechtfertigung ist die Versetzung aus dem Zustand der Gottferne, in dem wir als Kinder Adams geboren werden, in den Zustand der Gerechtigkeit und Heiligkeit, in dem wir die Annahme zu Kindern Gottes durch Christus haben. Rechtfertigung ist die Begabung des gnadenlosen Menschen mit der heiligmachenden Gnade. Die Rechtfertigung ist selbstverständlich ein zentraler Punkt im christlichen Leben; denn durch die Rechtfertigung werden wir aus Ungerechten zu Gerechten, aus Unheiligen zu Heiligen. Und das ist die Voraussetzung dafür, daß wir in Gemeinschaft mit Christus leben, und einst im Himmel uns mit ihm freuen können.

Die Rechtfertigung ist nach katholischer Lehre die Wegnahme der Sünden und die Begabung mit der heiligmachenden Gnade. Die Lehrverkündigung der Kirche knüpft an die Aussagen des Neuen Testamentes an, in denen die Rechtfertigung mit Ausdrücken beschrieben wird wie Neugeburt, Neu-Werden, Neues Leben, Gemeinschaft mit Christus, Licht. Diese Ausdrücke sind nach Überzeugung der Kirche ein Zeichen dafür, daß in der Rechtfertigung nicht bloß eine äußere Anrechnung der Verdienste Christi geschieht, sondern eine wahre und innerliche Heiligung. Das Konzil von Trient beschreibt die Rechtfertigung mit der Ursachenlehre. Es zählt fünf Ursachen auf, welche die Rechtfertigung zustandebringen.

Die erste Ursache ist die Zweckursache. Wozu geschieht die Rechtfertigung? Sie geschieht zur Ehre Gottes und zum Heile der Menschen. Denn dadurch, daß aus Ungerechten Gerechte werden, wird Gott geehrt und wird das Heil der Menschen beschafft. Die zweite Ursache ist die Wirkursache. Wer wirkt die Rechtfertigung? Nun, selbstverständlich kann sie nur einer wirken: Gott. Gott, der barmherzige Herr, ist die Wirkursache der Rechtfertigung. Aufgrund welcher Verdienste tut er das? Wer hat uns die Rechtfertigung verdient? Wer ist die Verdienstursache der Rechtfertigung? Das ist unser Heiland Jesus Christus, der stellvertretend für uns gesühnt und für uns genuggetan hat. Mit welchen Mitteln wird die Rechtfertigung herbeigeführt? Was ist das Werkzeug der Rechtfertigung?  Natürlich die Taufe. In der Taufe wird aus dem mit der Erbsünde behafteten Ungerechten ein Gerechter, wird der Mensch aus einem Kind Adams zu einem Kinde Gottes. Beim Erwachsenen muß zur Taufe selbstverständlich der Glaube hinzukommen, weil die Taufe ein Sakrament des Glaubens ist. Sie setzt bei dem mündigen Menschen den Glauben notwendig voraus. Die letzte Ursache ist die Formalursache. Welche Gestalt nimmt derjenige an, der gerechtfertigt ist? Nun, die Form der Rechtfertigung ist die heiligmachende Gnade. Die heiligmachende Gnade überformt gleichsam den Menschen und macht ihn zu einem Gerechten.

Das ist die katholische Lehre von der Rechtfertigung. Im Unterschied dazu hat Luther eine ganz andere Ansicht aufgebracht. Er geht davon aus, daß der Mensch durch die Ursünde restlos verderbt ist. Er ist zum Guten unfähig. In ihm haust die böse Begierlichkeit, und das ist für ihn die Erbsünde. Nach katholischer Lehre ist die Erbsünde der Zustand der Gnadenlosigkeit. Nach Luther ist die Erbsünde die böse Begierlichkeit.

Und wie stellt sich nun Luther die Rechtfertigung vor? Die Rechtfertigung ist für ihn ein „forensischer Akt“. Was heißt das? Ein Recht- oder besser Gerechtsprechen. Forensisch kommt ja von forum, und forum heißt „das Gericht“. Also Gott spricht den Sünder, der ungerecht bleibt, gerecht. Nach der negativen Seite werden ihm seine Sünden nicht angerechnet, nach der positiven Seite wird ihm die Gerechtigkeit Jesu angerechnet. Also keine wirkliche Heiligung, keine wirkliche Erneuerung, sondern eine rein äußerliche Anrechnung der Verdienste Christi. Der Mensch bleibt ein Sünder, er bleibt ungerecht, aber Gott behandelt ihn als gerecht.

Jeder wird zugeben, daß diese Lehre nicht nur mit der katholischen Lehrverkündigung, sondern mit dem Zeugnis der Heiligen Schrift unvereinbar ist. Denn wozu diese starken Ausdrücke wie Neugeburt, Neu-Werden, Heiligung? Warum spricht Paulus die Christen seiner Gemeinden als die „Heiligen“ an? Weil sie durch die Gnade in der Taufe geheiligt sind! Auch bezüglich der Taufe wird im Protestantismus eine ganz andere Auffassung vertreten als in der katholischen Kirche. Die Taufe ist für viele Protestanten – es gibt ja zahlreiche Richtungen im Protestantismus – lediglich ein äußerer Ausdruck dafür, daß man im Glauben gerechtfertigt ist. Und deswegen kann man unter Umständen auf die Taufe verzichten. In Schweden beispielsweise gibt es Hunderttausende von Protestanten, die nicht getauft sind, die aber Mitglieder der protestantischen Staatskirche sind. Man kann nach der Auffassung dieser protestantischen Richtung auch als Ungetaufter ein Christ sein. Die Taufe ist also nicht unerläßlich notwendig. Sie ist gewissermaßen nur das Siegel auf die Rechtfertigung, die im und durch den Glauben geschehen ist.

Zwischen diesen beiden Auffassungen gibt es sicher keine Vermittlung. Eine Enigung wäre nur dadurch möglich, daß entweder die Protestanten ihre Ansicht aufgeben oder die Katholiken von den Lehraussagen, von den unfehlbaren Lehraussagen aller Konzilien, vor allem des tridentinischen Konzils lassen. Daß es solche Katholiken gibt, ist keine Frage. Aber das ist eben der schleichende Übergang vom katholischen Glauben zum Protestantismus im Zeichen des Ökumenismus.

Die Unterschiede setzen sich dann fort bei der Frage der Vorbereitung der Rechtfertigung. Nach katholischer Lehre kann und muß sich der Mensch auf die Rechtfertigung vorbereiten. Nach protestantischer Lehre kann er es nicht und braucht er es nicht, denn er ist gar nicht fähig dazu. Wie sagt Luther: „Der Mensch wird entweder von Gott oder vom Teufel geritten.“ Er braucht gar nichts dazu zu tun; entweder rechtfertigt ihn Gott ohne sein Zutun, oder er bleibt in der Herrschaftszone des Teufels befangen. Also auch hier ein wesentlicher Unterschied, insofern es nach katholischer Lehre eine vom Menschen zu vollbringende Vorbereitung auf die Rechtfertigung gibt, notwendig gibt. „Der dich ohne dich geschaffen hat, rechtfertigt dich nicht ohne dich,“ sagt der heilige Augustinus. Der dich ohne dich geschaffen hat, rechtfertigt dich nicht ohne dich. Und wir haben dafür einen Realbeweis in der langen Vorbereitung, die – zumindest in der alten Zeit – die Katechumenen, also die Taufbewerber, über sich ergehen lassen mußten. Sie mußten eben nicht nur den Glauben kennenlernen, sondern auch sich einüben in das christliche Leben und die Tugenden und Haltungen zu erwerben versuchen, die der Christ haben muß. Es gibt also notwendig eine Vorbereitung auf die Rechtfertigung.

Selbstverständlich hat bei der Rechtfertigung der Glaube eine Stelle, und zwar eine entscheidende Stelle. Ohne Glauben ist es für den Erwachsenen unmöglich, gerechtfertigt zu werden. Wie sagt das Konzil von Trient: „Der Glaube ist der Anfang des Heiles, die Grundlage und Wurzel der Rechtfertigung.“ Also auch für uns ist der Glaube unentbehrlich, wenn ein Erwachsener gerechtfertigt werden soll – er ist der Anfang des Heiles, die Grundlage und Wurzel der Rechtfertigung.

Aber was für ein Glaube? Nach protestantischer Auffassung ist dazu der Fiduzialglaube erforderlich. Fiduzialglaube ist die mit Heilsgewißheit verbundene Zuversicht, daß uns Gott um der Verdienste Jesu willen die Sünden verzeiht. Fiduzialglaube ist also Vertrauensglaube. Dagegen sagt die katholische Lehre: Nein, der Fiduzialglaube allein genügt nicht. Dem Fiduzialglauben vorhergehen, mit ihm verbunden sein, ihn tragen muß der Bekenntnisglaube. Wer glauben will, der muß zunächst einmal Wahrheiten annehmen, nämlich daß Gott ist, und daß er denen, die ihn suchen, Vergelter wird. „Wer zu Gott kommen will, muß glauben, daß er ist, und daß er denen, die ihn suchen, Vergelter wird,“ heißt es im Hebräerbrief. Und an vielen Stellen des Neuen Testamentes wird ein Bekenntnisglaube verlangt. „Wer glaubt und sich taufen läßt, der wird gerettet werden.“ Oder wie sagt Johannes am Ende seines Buches, des vierten Evangeliums: „Das ist aufgeschrieben, damit ihr glaubet, daß Jesus der Messias, der Sohn Gottes, ist, und daß ihr durch den Glauben das Leben habet.“

Wir schließen selbstverständlich das Vertrauen und die Zuversicht auf Gottes rettendes Wirken nicht aus dem Glauben aus. Aber wir sagen: Vorhergehen und tragen muß den Vertrauensglauben der Bekenntnisglaube. Er ist die Grundlage für den Vertrauensglauben.

Außerdem genügt der so verstandene Glaube nicht. Es sind auch andere Haltungen – außer dem Glauben – gefordert, nämlich Furcht vor der Gerechtigkeit Gottes, anfängliche Liebe zu Gott, Hoffnung auf seine Vergebung, Reue über die Sünden. Das letzte ist ganz wichtig. Ohne Reue werden einem Sünder, der persönliche Sünden begangen hat, niemals Sünden vergeben. Es genügt nicht der Glaube, es muß die Reue hinzukommen. Die Reue ist unerläßlich, und ohne Reue kann der Glaube nichts nutzen.

Das alles wird aber vom Protestantismus bestritten. Er sagt: Es genügt der Fiduzialglaube, und das ist der articulus stantis et cadentis ecclesiae, d.h. an diesem Punkt hängt der ganze Protestantismus. Wer das aufgibt, hört auf, Protestant zu sein, und wer das annimmt, der wird Protestant.

Wir sehen, meine lieben Freunde, daß hier Welten zwischen den verschiedenen Auffassungen klaffen. Und wir sind vor die Entscheidung gestellt: Wohin wollen wir uns schlagen? Wollen wir beim katholischen Glauben bleiben, wie ihn das Konzil von Trient angesichts des großen Abfalls gültig und unaufgebbar formuliert hat, oder wollen wir diesen Glauben verlassen und uns zu der Abweichung begeben, die im 16. Jahrhundert entstanden ist? Ich möchte Sie auf die Gefahr aufmerksam machen, die heute besteht, daß nämlich nach der berühmten Salamitaktik ein Element des Katholischen nach dem anderen aufgegeben wird. Man sagt: Dieser Punkt ist nicht so wichtig, ihn kann man fallenlassen, und jener ist auch nicht notwendig festzuhalten, bis wir unmerklich im Protestantismus sind. Wenn es so ist, wie die Autoren des Papiers: „Lehrverurteilungen – kirchentrennend?“  behaupten, daß die heutigen Protestanten von den Verurteilungen des Konzils von Trient nicht mehr getroffen werden, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder sind sie keine Protestanten mehr, und dann könnten sie ja die Lehre des Konzils von Trient annehmen, oder aber sie sind Protestanten, und dann werden sie von den Lehrverurteilungen nach wie vor getroffen und müssen weiter protestieren, und das tun sie ja auch wahrhaftig. Es gibt eine Fülle von Äußerungen namhafter evangelischer Theologen, die sagen: Dieses Papier verzeichnet die protestantische Position, sie verzeichnet aber auch die katholische Lehre. Es existiert ein Brief des berühmten Schweizer Theologen Karl Barth. In diesem Briefe schreibt er einem von denen, die behaupten, in der Rechtfertigungslehre bestünden keine Unterschiede mehr: „Wenn Sie behaupten, es gäbe keine Unterschiede mehr, dann werfen Sie mir vor, daß ich mein ganzes Leben lang das Konzil von Trient mißverstanden habe.“ Das schreibt der berühmte evangelische Theologe Karl Barth.

Lassen Sie sich, meine lieben Freunde, nicht irremachen! Halten Sie am katholischen Glauben, auch in den Formulierungen, die das Konzil von Trient getroffen hat, fest! Wir haben den Glauben nicht ohne die verbindlich festgelegten Ausdrücke. In diesem Glauben wollen wir leben, aber in diesem Glauben wollen wir auch sterben.

Amen.

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