Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
18. Februar 1990

Die Unermeßlichkeit und Allgegenwart Gottes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Wir haben ja alle denselben Gott.“ So hört man oft Menschen reden, wenn es um die Unterschiede im Glauben geht. Diese Rede ist gefährlich, denn wir haben nur den Gott, den wir kennen. Und die Kenntnis Gottes ist bei den Menschen sehr unterschiedlich. Das Gottesbild, das die einzelnen Menschen haben, ist sehr verschieden. Es kommt aber nicht darauf an, irgendein Bild von Gott zu haben, sondern das rechte Bild. Wir sollen Gott nicht in irgendeiner Weise verehren, sondern in der richtigen Weise. Darum ist es so bedeutsam, meine lieben Christen, daß wir uns Gott vor Augen führen, sein Wesen und seine Eigenschaften, und das versuchen wir seit mehreren Sonntagen. Am vergangenen Sonntag haben wir nachgedacht über die Eigenschaften der Unveränderlichkeit und der Ewigkeit Gottes. Heute wollen wir bedenken, was es heißt, wenn wir sagen: Gott ist unermeßlich und allgegenwärtig. Wir wollen also die beiden Eigenschaften Gottes bedenken, die Unermeßlichkeit und Allgegenwart Gottes bedeuten.

Unermeßlichkeit Gottes besagt die Verneinung jeder räumlichen Beschränkung. Im Glaubensbekenntnis, welches das athanasische heißt, wird von Gott bekannt: „Unermeßlich ist der Vater, unermeßlich der Sohn, unermeßlich der Heilige Geist. Aber nicht drei Unermeßliche, sondern ein Unermeßlicher.“ Das IV. Laterankonzil vom Jahre 1215 und das I. Vatikanische Konzil von 1870 haben Gott ausdrücklich das Attribut, die Eigenschaft, unermeßlich zu sein, beigegeben. Diese Verkündigung des kirchlichen Lehramtes ist nichts anderes als der Widerhall der Offenbarungsurkunde, der Heiligen Schrift. Der König Salomon hatte den Plan verwirklicht, den

schon sein Vater David gehabt hatte, nämlich Gott ein Haus zu bauen, einen Tempel. Und diesen Tempel hat er in wunderbarer Pracht errichtet. Als er fertig war, da sprach Salomon ein Gebet, und in diesem Gebete kommt der bedeutsame Satz vor: „Die Himmel der Himmel können dich nicht fassen, wieviel weniger das Haus, das ich dir gebaut habe!“ Also Salomon war sich über die Unermeßlichkeit Gottes völlig im klaren. Die Himmel der Himmel, jene Welt, die Gott vorbehalten ist, ist außerstande, Gott einzuschließen. Und wenn das schon für die Himmel der Himmel gilt, um wieviel mehr muß es für das Haus gelten, das trotz aller Pracht bescheiden auf dem Tempelberge in Jerusalem steht.

Gott ist unermeßlich. Das haben auch die Kirchenväter immer wieder hervorgehoben in ihren Schriften. Sie nennen Gott unfaßbar, unumschreibbar, unermeßlich. In einer Schrift aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., dem Hirten des Hermas, heißt es: „Wie könnte der umfaßt werden, der alles umfaßt?“ Der tiefste Grund für die Unermeßlichkeit Gottes ist seine unendliche Seinsfülle. Wenn Gott unendlich ist, dann ist eben jedes Messen und jedes Wägen und jedes Zählen von ihm ausgeschlossen. Wer unendlich ist, der kann auch nicht im meßbaren Raum eingeschlossen werden. Die unendliche Seinsfülle Gottes erhebt Einspruch gegen irgendeine räumliche Beschränkung Gottes. Gott ist über jeden Raum erhaben.

Der Raum, meine lieben Christen, ist gewaltig. Der Teil des Weltalls, den wir zu erkennen vermögen mit Fernrohren und mit photographischen Platten, also mit den Mitteln der modernen Astronomie, umfaßt 500 Millionen Sternensysteme, Galaxien, und jedes dieser Sternensysteme besteht aus einer Unmasse von Einzelsternen. Diese Sternensysteme sind Hunderte von Millionen Lichtjahre von uns entfernt. Ein Lichtjahr, das ist die Strecke, die ein Lichtstrahl in 1 Jahr zurücklegt. Man hat ausgerechnet, wie lange es dauern würde, wenn ein Schnellzug mit 200 Stundenkilometern zu dem für uns gut erkennbaren Sternennebel Andromeda reisen wollte. Ein Schnellzug mit 200 Stundenkilometern, der zum Sternennebel Andromeda fahren wollte, bräuchte dafür 1 Billion Jahre. 1 Billion sind 1000 Milliarden. 1 Billion Jahre bräuchte der Schnellzug. Das ist also das geschaffene Weltall, das wir erkennen, das wir vor Augen haben, das wir bis zu einem gewissen Grade ermessen können. Wieviel gewaltiger muß der sein, der das alles erschaffen hat, der weltüberlegene Gott in seiner Seinsfülle, mit seinem unräumlichen Wesen. Gott ist unermeßlich.

Aus der Unermeßlichkeit Gottes aber ergibt sich seine Allgegenwart. Gott ist im geschaffenen Raum allgegenwärtig. Auch das wird von der kirchlichen Lehre unermüdlich festgehalten und vorgetragen. In älteren Kirchen sieht man über dem Altar häufig ein Auge abgebildet in einem Dreieck. Dieses Auge soll Gottes Auge darstellen, seine Gegenwart, seine Allgegenwart, auch – und natürlich besonders – in jedem Gotteshaus. Die Heilige Schrift spricht vor allem im 138. Psalm in ergreifender Weise von der Allgegenwart Gottes. „Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, wohin fliehen vor deinem Antlitz. Stiege ich auch zum Himmel hinauf, du bist dort. Läge ich drunten im Totenreich, siehe, da bist du. Nähme ich mir auch des Morgenrots Schwingen und ließe mich nieder am Ende des Meeres, so würde auch dort deine Hand mich fassen, deine Rechte mich geleiten. Und dächte ich: Finsternis soll mich verhüllen, zur Nacht soll werden das Licht um mich her, so wäre auch die Finsternis nicht für dich finster, die Nacht wäre hell wie der Tag, die Finsternis wie das Licht.“

Aus diesem wunderbaren Text geht die Überzeugung hervor, daß Gott überall gegenwärtig ist. Die Theologen, vor allem die Kirchenväter, haben sich bemüht, die Allgegenwart Gottes zu ergründen und zu unterscheiden. Sie sprechen von einer Allgegenwart der Kraft nach, einer Allgegenwart dem Wissen nach und einer Allgegenwart der Wesenheit nach. Gottes Allgegenwart ist eine solche der Kraft nach. Der Kraft nach gegenwärtig ist zum Beispiel die Sonne auf unserer Erde. Die Sonne fällt ja mit der Erde nicht zusammen. Sie ist nicht auf der Erde, aber mit ihrer Kraft, mit ihren Strahlen, mit ihrer Wärme, mit ihrer Helligkeit, da ist die Sonne auf unserer Erde. Ähnlich ist Gott mit seiner Kraft überall gegenwärtig. Er spricht, er will, und dann geschieht es, und das überall. Gott ist der Kraft nach, mit dynamischer Gegenwart, wie die Theologen sagen, überall gegenwärtig. Was er will, das vollbringt er. Keine Schwäche ficht ihn an, und keine Ohnmacht kann ihn erreichen. Er ist der Kraft nach überall gegenwärtig.

Gott ist aber auch dem Wissen nach überall gegenwärtig. Der heilige Paulus sagt in seiner Rede auf dem Areopag in Athen: „In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“ In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir. Wie der Gedanke ein Erzeugnis unseres Geistes ist, so ist der Raum und alles, was ihn erfüllt, ein Erzeugnis, ein Produkt des göttlichen Geistes. Und so, wie wir den Gedanken durchdringen mit unserem Geist, so durchdringt Gott mit seinem Geiste den Raum und alles, was ihn erfüllt. Es ist das eine ideelle Gegenwart Gottes, wobei wir uns freilich von dem Gedanken lösen müssen, daß die Idee kraftlos und schwach sei, sondern Gottes Ideen sind mit Macht und mit Wirksamkeit begabt. Und was er denkt, das schafft er, zum Unterschied von uns. Es gibt also eine Gegenwart Gottes der Idee nach, dem Gedanken nach, eine ideelle Gegenwart Gottes.

Und schließlich ist seine Gegenwart eine Gegenwart der Substanz nach, der Wesenheit nach. Das heißt, alles, was ist, verdankt sein Dasein Gott. Und nur solange Gottes Wesenheit, Gottes Substanz in jedem Ding wirksam ist, verharrt es im Dasein. Wenn Gott sich zurückziehen würde, würde das Ding, würde jeder Gegenstand in das Nichts zurückfallen. Deswegen muß Gott in jedem Ding mit seiner Substanz gegenwärtig sein.

Ich weiß, meine lieben Freunde, daß diese Wirklichkeiten für unseren armen Verstand unvorstellbar sind. Aber sie sind denknotwendig. Gerade der heilige Thomas von Aquin hat die Allursächlichkeit Gottes als den Grund dafür angegeben, warum Gott in jedem Ding seiner Substanz nach gegenwärtig ist. Und das scheint auch der Sinn der Worte zu sein, die wir in jeder heiligen Messe beten: „Himmel und Erde sind erfüllt – erfüllt! – von deiner Herrlichkeit.“ Die Gegenwart Gottes nach der Wesenheit ist eben eine repletive, eine erfüllende Gegenwart, nicht im Sinne einer Expansion, einer Ausdehnung Gottes; denn Gott ist einfach, aber es ist eine wirkliche und wahre Gegenwart. Gottes Geist erfüllt den Erdkreis.

Als der Patriarch Jakob den Traum von der Himmelsleiter hatte, da sprach er: „Wahrhaftig, Gott ist hier zugegen, und ich wußte es nicht.“ Das kann, ja das muß man von jedem Raum sagen. Gott ist hier zugegen, und viele wissen es nicht. Die es aber wissen, empfangen aus der Lehre von der Allgegenwart große Kraft und starken Trost. Wer an die Allgegenwart Gottes glaubt, der hat erstens ein mächtiges Mittel, um dem Bösen zu widerstehen. Das ist schon unter Menschen so. Wenn wir in der Gegenwart eines Menschen sind, der uns nahesteht, den wir lieben, der unser Vorgesetzter ist, da nehmen wir uns zusammen, da bemühen wir uns, einen guten Eindruck zu machen, da beherrschen wir uns. Um wieviel mehr muß das gelten angesichts der Gegenwart Gottes! Der Gedanke an die Gegenwart Gottes, die Erinnerung an Gottes Gegenwart ist also ein mächtiges Hilfsmittel, um der Sünde zu widerstehen. Als die Frau des Putiphar in Ägypten den Josef, den Sohn Jakobs, verführen wollte, da war die Erinnerung an Gottes Gegenwart die mächtige Hilfe, die ihn vor dem Nachgeben gegenüber der Versuchung bewahrte.

Die Erinnerung an Gottes Gegenwart hilft uns aber auch, in der Gnade zu verharren. In der griechischen Sage wird von dem Theseus erzählt, daß er in das Labyrinth zu Knossos einging und sich darin verirrt hätte, wenn nicht Ariadne ihm einen Knäuel in die Hand gedrückt hätte, einen Wollknäuel, den er dann aufrollte, je weiter er ging, und an diesem Faden, an dem Ariadnefaden konnte er sich zurücktasten aus dem Labyrinth. Ähnlich, meine Freunde, ist es mit der Erinnerung an Gottes Gegenwart. Sie hilft uns, die Gnade zu bewahren. Sie ist gleichsam das Mittel, mit dem wir das festhalten, was wir in unseren Händen tragen, wie ein Goldstück, nämlich die Gnade Gottes, die wir nicht preisgeben und nicht verlieren wollen.

Die Erinnerung an Gottes Gegenwart ist aber auch drittens ein mächtiges Mittel, daß wir gute Werke tun. Wir sollen uns auszeichnen vor Gott. Wenn wir Menschen um uns haben, die wir schätzen, die wir ehren, die wir erfreuen wollen, dann bemühen wir uns, tätig zu sein und ihnen die Wünsche von den Augen abzulesen. Ähnlich ist es mit der Gegenwart Gottes. Wenn wir daran denken, daß er bei uns ist, dann werden wir ob dieser Gegenwart uns bemühen, uns auszuzeichnen in seinem Dienste, gute Werke zu tun, rastlos tätig zu sein, alle Trägheit zu überwinden, um ihm zu gefallen.

Und schließlich viertens noch ein letztes, was die Gegenwart Gottes, der Gedanke, die Erinnerung an Gottes Allgegenwart in uns bewirken kann. Sie macht uns furchtlos. Es ist schon bei Menschen so, daß die Furcht gemindert ist, wenn jemand uns begleitet in einer gefährlichen Situation. Ähnlich ist es auch mit Gott. Wenn Gott bei uns ist, dann können wir mit dem Psalm 22 sprechen: „Ich fürchte kein Unheil, du bist ja bei mir. Dein Stock wie auch dein Stab gereichen mir zum Trost.“

Die Kaiserin Eudoxia in Konstantinopel bedrohte den Bischof dieser Stadt, den heiligen Johannes Chrysostomus wegen seines Freimuts. Und sie bedrohte ihn mit Landesverweis, also mit Verbannung. Da gab ihr Chrysostomus die klassische Antwort: „Nur dann könntest du mich erschrecken, wenn du mich an einen Ort schicken könntest, wo Gott nicht ist.“ Ein wunderbares Wort. Nur dann könntest du mich erschrecken, wenn du mich an einen Ort schicken könntest, wo Gott nicht ist.

Das ist also die Lehre von der Allgegenwart Gottes. Diese Lehre ist nicht ein blasses, theoretisches Gedankengebilde, das wir schon wieder am Abend vergessen haben können, sondern diese Lehre soll uns begleiten, sie soll mit uns gehen und soll unsere Kräfte aufrufen, damit wir im Dienste Gottes vor seinem Auge arbeiten und kämpfen wie gute Soldaten, die für ihren Feldherrn streiten, diese um irdischen Lohn, wir um himmlischen Lohn. „Gedenke, wo du immer bist, daß Gott in deiner Nähe ist!“

Amen.

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