Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
21. Januar 1990

Erkenntnis Gottes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Wer Gott kennt, kennt alles. Wer Gott nicht kennt, kennt nichts.“ Das hat einmal der große Lacordaire, der berühmte französische Dominikaner, gesagt. Wer Gott kennt, kennt alles, wer Gott nicht kennt, kennt nichts. Die Kenntnis Gottes ist der Schlüssel zum Verständnis der Welt. Gott erkennen ist den Menschen auf Erden auferlegt und im Himmel verheißen.

Es gibt eine zweifache Erkenntnis Gottes: Im Diesseits die Erkenntnis durch die Vernunft und durch den Glauben, im Jenseits die Erkenntnis durch das Schauen.

Wir wollen an erster Stelle uns mit der Erkenntnis Gottes im Diesseits beschäftigen und dann mit der Schauung Gottes im Jenseits. Die Erkenntnis Gottes im Diesseits geschieht durch die Vernunft und durch den Glauben. Die Vernunft ist jenes mit der Menschennatur gegebene Vermögen, mit dem wir aus den Werken der Schöpfung auf den Schöpfer schließen, mit dem wir in diskursivem Denken die Gottesbeweise führen. Der Glaube ist jenes Licht, das Christus uns gebracht hat in seiner Offenbarung. Mit dem Glauben erkennen wir Gott aus der Offenbarung, aus dem Sein, aus dem Wesen, aus dem Tun und aus dem Verkündigen Jesu Christi.

Die Gotteserkenntnis in dieser Zeit, auf dieser Welt, im Diesseits, hat eine vierfache Eigenart. Sie ist zunächst einmal eine mittelbare Gotteserkenntnis, mittelbar, weil sie vermittelt wird durch die Geschöpfe. Das ist ja das Wesen der Gottesbeweise, daß wir von der Schöpfung zum Schöpfer durch schlußfolgerndes Denken aufsteigen. Wir sehen die Ordnung in der Welt und schließen daraus auf einen göttlichen Ordner. Wir sehen das Leben in der Welt und erschließen daraus die Lebendigkeit Gottes. Wir sehen die Schönheit der Welt und schließen auf die Schönheit, auf die unendliche Schönheit Gottes. Eine mittelbare Weise der Gotteserkenntnis also, vermittelt durch die Geschöpfe.

Die Gotteserkenntnis im Diesseits ist weiter eine analoge. Das ist ein fremdes Wort, aber die damit gemeinte Sache kommt sogar in der Heiligen Schrift vor, im Alten Testament schon. Eine analoge Gotteserkenntnis ist eine, die nicht durch die Erkenntnis Gottes selbst, sondern von Außergöttlichem vermittelt wird. Wir erkennen Gott analog, das will sagen: Wir erkennen ihn nicht in seinem eigenen Erkenntnisbild, sondern wir erkennen ihn in einem fremden Erkenntnisbild, nämlich in dem Erkenntnisbild der Geschöpfe. Gott ist ja die Ursache der Geschöpfe. Und als Verursacher der Geschöpfe muß er alle Vollkommenheiten der Geschöpfe in sich haben, sonst könnte er sie nicht verursachen. Wir können also aufgrund einer gewissen Ähnlichkeit – das ist Analogie – von dem Geschöpf auf den Schöpfer schließen. Natürlich ist die Unähnlichkeit zwischen Schöpfer und Geschöpf noch größer als die Ähnlichkeit, aber die Ähnlichkeit bleibt trotzdem bestehen. Unähnlichkeit ist natürlich deswegen vorhanden, weil Gott unendlich ist und die Geschöpfe endlich sind. Aber das hindert nicht, daß der Unendliche und die endlichen Geschöpfe dem Sein zugehören, daß es also eine Seinsanalogie zwischen Geschöpf und Schöpfer gibt.

Diese Analogie begreift man auf dreifache Weise. Man spricht Gott alle die Vollkommenheiten zu, die in den Geschöpfen sind; denn von ihm stammen sie, also muß er sie haben. Wir steigern aber alle Vollkommenheiten ins Unendliche, denn Gott ist eben nicht ein Geschöpf, sondern der Schöpfer. Was in den geschöpfen in endlicher Weise verwirklicht ist, das findet sich in ihm in unendlicher Weise. Und schließlich sprechen wir ihm alle Unvollkommenheiten ab, die in den Geschöpfen sind. Diese drei Wege sind es, die schon die Griechen angewandt haben, um zu einer Erkenntnis Gottes zu gelangen, einer analogen Erkenntnis.

Die Erkenntnis Gottes im Diesseits ist schließlich unvollkommen. Wir können nicht zu einer umfassenden, zu einer erschöpfenden Erkenntnis Gottes gelangen. Wir haben Erkenntnisse, die von Unvollkommenheiten durchwirkt sind. Wir haben Licht, aber das Licht ist mit Dunkel gemischt. Die Erkenntnis Gottes auf Erden ist, wie der heilige Apostel Paulus beschreibt, eine Erkentnnis, die rätselhaft ist, die spiegelhaft ist und die Stückwerk ist. Im 1. Brief an die Korinther schreibt er: „Jetzt sehen wir nur wie durch einen Spiegel in Rätseln, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich erkennen, wie auch ich erkannt bin.“ Erkennen wie in einem Spiegel heißt das Abbild erkennen. Erkenntnis in Rätseln ist eine Erkenntnis, die mit vielen Fragen behaftet bleibt. Und stückweise erkennen besagt, daß wir nicht das Ganze sehen. Das muß so sein. Eine unendliche Wirklichkeit kann nur jemand erkennen, der auch einen unendlichen Verstand hat. Unser Erkenntnisvermögen ist nicht fähig, etwas Unendliches zu erkennen, weil es selber endlich ist, begrenzt. Aber das hindert nicht, daß auch viertens unsere Erkenntnis wahr ist. Man darf die Unvollkommenheit der irdischen Erkenntnis Gottes nicht so übertreiben, daß man sagt: Wir wissen gar nichts von Gott. Das ist der reine Agnostizismus, also eine Lehre, die behauptet, wir könnten von Gott überhaupt nichts wissen. O doch, wir können, wir sollen etwas wissen, durch die Vernunft und durch die Offenbarung. Aber diese Erkenntnis ist unvollkommen und trotzdem wahr. Sie ist nicht falsch, weil sie unvollkommen ist. Sie ist nur nicht vollständig, sie ist nur nicht umfassend, sie ist nur nicht adäquat, also ganz dem Gegenstand angemessen.

Das ist also die diesseitige Erkenntnis. Aber diese Erkenntnis soll einmal abgelöst werden durch eine andere. Das Glauben soll einmal in das Schauen übergehen, und das ist der Zustand, den wir den Himmel nennen. Im Himmel werden wir nicht mehr glauben, keine Gottesbeweise mehr führen, sondern wir werden dort schauen. In diesem Sinne heißt es in der Heiligen Schrift im 1. Johannesbrief: „Denn wir werden ihn sehen, so wie er ist.“ Wir werden ihn sehen, so wie er ist. Wir werden nicht mehr nur durch intellektuelle Überlegungen zu ihm aufsteigen können, wir werden nicht mehr auf die Offenbarung zu hören haben, sondern was der Verstand zu finden sich bemüht hat und was die Offenbarung uns enthüllt hat, das werden wir schauen, von Agesicht zu Angesicht. Dann werden wir intuitiv Gott erkennen. Gott wird uns gleichsam neue Augen schenken, damit wir ihn schauen können, den wir auf Erden nicht sehen konnten. Auf Erden, mit dem leiblichen Auge, aber auch mit dem Verstande, ist Gott nicht zu schauen. Im Jenseits wird uns eine neue Sehkraft vermittelt, das Glorienlicht, das Herrlichkeitslicht, und mit dieser neuen Anlage, mit dieser neuen Fähigkeit werden wir instand gesetzt, Gott zu schauen. Daß wir dazu fähig sind, beruht auf unserer Gottebenbildlichkeit. Wir sind auf Gott hin und nach seiner Ähnlichkeit geschaffen, und seine Allmacht wird bewirken, daß wir im Jenseits fähig werden, ihn zu schauen. Wir werden sein Wesen schauen, wir werden von seiner Herrlichkeit entzückt und hingerissen sein. Wir werden eine ganze Ewigkeit nicht fertig werden, Gott anzubeten, zu verherrlichen ob seines wunderbaren Wesens.

Und noch etwas, meine lieben Freunde, was sehr tröstlich ist. In Gott werden wir auch die geschöpflichen Dinge schauen. Gott wird uns das, was für uns auf Erden von Bedeutsamkeit ist, auch im Zustand des Himmels zu sehen geben. Das ist deswegen so tröstlich, weil wir überzeugt sein dürfen, daß unsere verstorbenen Angehörigen, die im Himmel sind, alles das in Gott sehen dürfen, was für sie bedeutsam ist. Und da dürfen wir doch wohl annehmen, daß sie uns, die wir ihnen nahegestanden haben, im Angesichte Gottes in irgendeiner Weise, die wir nicht erklären können, schauen werden. Sie werden Anteil nehmen an uns, sie werden für uns beten, sie werden für uns eintreten bei Gott. Die im Zustand der Seligkeit Befindlichen werden nach allgemeiner Überzeugung der Kirche auch außergöttliche Dinge in Gott schauen dürfen, soweit sie für sie von Bedeutsamkeit sind. Das ist nur möglich, weil Gott in ihnen einen neuen habitus operativus schafft, eine neue Fähigkeit, eine neue Anlage, die über das Glaubenkönnen und über das Wissenkönnen hinausgeht und die das Schauenkönnen beinhaltet.

Freilich dürfen wir uns die jenseitige Erkenntnis nicht so vorstellen, als ob die Seligen jetzt Gott komprehensiv und adäquat erfassen können. Auch die Seligen des Himmels können den Unendlichen nur endlich schauen. Sie schauen den Unendlichen, aber sie schauen ihn in endlicher Weise. Sie werden durch die Aufnahme in die Freuden des Himmels keine unendlichen Wesen. Sie bleiben endliche Wesen. Deswegen ist auch ihr Schauen nur in einer endlichen Weise möglich. Sie werden ja nicht in Gott verwandelt, sie werden nur zu Gott gerufen. Und darum muß man auch von den Seligen des Himmels sagen, daß sie Gott nicht umfassend, nicht adäquat, sondern immer noch unvollkommen schauen. Sie schauen ihn, aber nicht in einer Weise, daß sie Gott durchschauen, nicht in einer Weise, daß sie gewissermaßen in die letzten Geheimnisse Gottes eindringen. Auch für die Seligen des Himmels bleibt Gott ein undurchdringliches Geheimnis. Die Schauung im Himmel hebt den Geheimnischarakter Gottes nicht auf.

Das ist also unsere Hoffnung, wie sie der Apostel im 1. Korintherbrief unvergleichlich ausgedrückt hat: „Wenn das Vollkommene erscheint, wird das, was Stückwerk ist, abgetragen werden. Aks ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind, urteilte wie ein Kind. Als ich aber ein Mann ward, legte ich das kindische Wesen ab. Jetzt sehen wir nur wie durch einen Spiegel in Rätseln, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich erkennen, wie auch ich erkannt bin.“

Amen.

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