Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
10. Juli 1988

Die Gratuität der Gnade

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wenn man in der Apotheke eine größere Rechnung zu bezahlen hat, kann es einem geschehen, daß der Apotheker etwas draufgibt, ein Päckchen Tempotaschentücher oder ein paar Hustenbonbons. Er sagt dann: „Das ist gratis.“ Gratis! Das bedeutet kostenlos, ohne Gegenleistung. Und wir müssen heute sprechen, nachdem wir die vergangenen Sonntage von der Notwendigkeit der Gnade gesprochen haben, von der Gratuität der Gnade, d.h. davon, daß die Gnade uns aus dem freien Willen Gottes geschenkt wird und daß sie von uns nicht erzwungen werden kann. Gott bleibt der Herr seiner Gnaden. Wir wollen die Lehre der Kirche über diesen Gegenstand in drei Sätzen zusammenfassen:

1. Die Gnade kann durch keine natürlichen Werke, weder nach Recht noch nach Billigkeit, verdient werden.

2. Die Gnade kann auch durch kein natürliches Bittgebet erfleht werden.

3. Der Mensch kann keine natürliche positive Disposition für die Gnade erwerben.

Die Sätze klingen ein wenig fremdartig, sie sind aber seit 1.500 Jahren festes Lehrgut der Kirche. Sie gehen zurück auf das II. Konzil von Orange vom Jahre 529. Orange ist ein kleiner Ort in Südfrankreich und gehört zur Kirchenprovinz Arles, und das Konzil von Orange war ein Provinzialkonzil von Arles. Ja, wird da jeder fragen, der theologisch geschult ist, kann denn ein Provinzialkonzil eine Lehre verkündigen, die für die ganze Kirche gilt? Normalerweise nicht, aber wenn der oberste Hirt der Kirche, der Heilige Vater, wenn der Papst dieser Lehre zustimmt, dann kann die Lehre eines Provinzialkonzils für die ganze Kirche gelten, und das eben ist beim II. Konzil von Orange der Fall. Die Sätze, die dort angenommen wurden, lagen dem Heiligen Vater vorher zur Begutachtung vor. Er hat sie verbessert, dem Konzil zugesandt, und das Konzil hat sie angenommen, und der Papst hat sie noch einmal im Jahre 531 bestätigt, also als richtig und zutreffend anerkannt.

Dieses Konzil von Orange nun sagt zu dem ersten Satz: Man kann die Gnade weder nach Recht noch nach Billigkeit durch natürliche Werke verdienen. „Es gehen der Gnade keine natürlichen Werke voraus. Der Anfang liegt bei Gott.“ Und das Konzil von Trient hat diese Lehre aufgenommen und darauf zurückgegriffen und gesagt: „Die vorauswirkende Gnade, die vorausgehende Gnade, das ist der Anfang der Rechtfertigung. Es gehen dem Anfang der Rechtfertigung keine natürlichen Verdienste des Menschen voraus.“

Diese Lehre ist nichts anderes als der Widerhall des biblischen Kerygmas. Was in der Heiligen Schrift steht, das hat das Konzil in Begriffe gefaßt, denn in der Heiligen Schrift, vor allen Dingen im Römerbrief, verkündet der Apostel Paulus: „Wenn aber aus Gnade, dann nicht mehr aus Werken; denn sonst wäre Gnade nicht mehr Gnade.“ Also die Gnade kommt nicht aus Werken, sondern sie kommt aus dem freien, souveränen Willen Gottes. Weil Gott will, daß die Menschen selig werden, gibt er ihnen die Gnade. Und an einer anderen Stelle sagt der Apostel Paulus: „Wir werden gratis – geschenkweise – gerechtfertigt.“ Also nicht, weil Werke des Menschen Gott gewissermaßen zwingen, ihn zu begnaden, sondern weil Gott will, daß der Mensch begnadet wird, deswegen wird ihm die Gnade gegeben. Das Prinzip des Heiles kann nicht selber noch verdient werden, das Prinzip des Heiles muß geschenkt werden, und deswegen der erste Satz: Durch keine natürlichen Verdienste, durch keine Werke weder des alttestamentlichen Gesetzes noch des Naturgesetzes kann die Gnade der Rechtfertigung verdient werden.

Der zweite Satz ergibt sich eigentlich daraus: Auch durch kein natürliches Bittgebet kann die Gnade erbeten werden, durch kein natürliches, also vom natürlichen Menschen, vom nichtbegnadeten Menschen verrichtetes Bittgebet kann die Gnade herbeigerufen werden. Wiederum sagt das II. Konzil von Orange gegen die Semipelagianer: „Daß wir um Gnade bitten, kommt nicht von uns, sondern das ist bereits Wirkung der Gnade.“ Die Gnade bewirkt, daß wir Gott anrufen. Und so hat schon der Apostel Paulus gelehrt: „Niemand kann sagen: Herr ist Jesus Christus, außer im Heiligen Geiste.“ Also man muß den Heiligen Geist haben, wenn man Jesus als den Herrn bekennen will. Und an einer anderen Stelle sagt er noch deutlicher: „Ebenso kommt aber auch der Geist unserer Schwachheit zu Hilfe; denn was wir beten sollen, wie es sich gehört, wissen wir nicht, aber der Geist selbst legt Fürsprache für uns ein mit unaussprechlichen Seufzern.“ Wir wissen es nicht nur nicht, wie wir beten sollen, wir können es auch nicht, wenn der Heilige Geist nicht in uns eintritt und uns beten lehrt, wie man beten soll. Ein heilskräftiges Gebet gibt es nur in der Kraft des Heiligen Geistes.

Diese Lehre hat der heilige Augustinus entfaltet in seinen Schriften, indem er immer wieder darauf hinweist: „Wir können nur aufrichtig und im Geiste beten, wenn es uns gegeben wird. Nicht aus dir, sondern aus Gott kommt es, daß du heilskräftig beten kannst.“

Und so verstehen wir auch den dritten Satz, nämlich: Es gibt keine natürliche positive Disposition für die Gnade. Was ist eine Disposition? Eine Disposition ist eine Empfänglichkeit für eine Form, für eine Bestimmtheit. Man unterscheidet die negative Disposition von der positiven. Die negative besteht darin, daß man die Hindernisse beseitigt. Die positive Disposition besteht in einer bestimmten Hinordnung. Und eben das wird von der Kirche mit der ganzen Tradition und mit der Heiligen Schrift bestritten, daß der Mensch sich eine positive natürliche Disposition auf die Gnade erwerben kann. Warum ist das unmöglich? Weil eben gewissermaßen eine zu große Kluft ist zwischen Natur und Gnade. Es fehlt die innere Proportion, das innere Verhältnis zwischen Natur und Gnade. Die Gnade ist uns geschenkt, und auch die Disposition muß uns geschenkt werden.

Wiederum sagt das II. Konzil von Orange: „Wenn wir Sehnsucht haben, von der Sünde befreit zu werden, dann kommt diese Sehnsucht von Gott.“ Diese Sehnsucht wächst nicht aus unserer Natur, sondern wird uns von Gott gegeben, das ist schon das Wirken der Gnade in unserer Seele. Das Verlangen, von Sünden befreit zu werden, wird von Gott in der Seele erweckt.

Auch dafür kann man sich biblischer Zeugnisse bedienen. So heißt es etwa im Epheserbrief: „Denn durch Gnade aufgrund des Glaubens seid ihr gerettet, und zwar nicht aus euch selbst.“ Achten wir darauf: „Nicht aus euch selbst!“ Der Text fährt dann fort: „Es ist Gottes Geschenk, nicht aus Werken, damit sich niemand rühme.“ Also auch diese Hinordnung, diese Disposition für die Gnade muß uns von Gott geschenkt werden. Der heilige Augustinus hat in dieser Frage zeitweilig geschwankt. In einer früheren Zeit meinte er, es gebe doch noch irgendwie occultissima merita, ganz geheime Verdienste. Aber nein, er hat sich dann durchgerungen durch Gebet und Studium zu der Lehre, die das Konzil von Orange bekräftigt hat: Es gibt keine natürliche positive Disposition auf die Gnade. Er stützte sich vor allem auf ein Wort aus dem alttestamentlichen Buch der Sprichwörter, das in der lateinischen Übersetzung heißt: Praeparatur voluntas a deo – schon der Wille wird von Gott vorbereitet. Also der sogenannte gute Wille kommt schon unter dem Einfluß der Gnade zustande. Praeparatur voluntas a deo, der Wille wird von Gott zugerüstet, damit er die Gnade sucht und sich dazu bereitet.

Das ist die Gratuität der Gnade, meine lieben Freunde, das ist die Tatsache, daß die Gnade uns aus Gottes freiem Willen zugeteilt wird. Die mittelalterliche Theologie hat in diesem Zusammenhang den Satz aufgestellt: „Dem Menschen, der tut, was in ihm selbst ist, verweigert Gott nicht seine Gnade.“ Dem Menschen, der tut, was in ihm selbst ist, verweigert Gott nicht seine Gnade.

Was bedeutet dieser Satz? Es gibt zwei Deutungen, zwei richtige Deutungen. Die eine ist aufgestellt von der Schule des heiligen Thomas, den Thomisten, die sagen: „Wer in der Gnade und mit der Gnade arbeitet, dem gibt Gott immer weitere Gnaden, Gnade auf Gnade, unaufhörlich Gnade.“ Dem Menschen, der tut, was in ihm ist, aber kraft der Gnade, dem verweigert Gott nicht weitere Gnaden. Die Molinisten, die auf einen spanischen Theologen namens Molina zurückgehen, erklären den Satz anders. Sie sagen: „Wenn der Mensch die Sünde meidet, gibt ihm Gott die Gnade.“ Das ist ein nicht ungefährlicher Satz, denn die Gnade kommt nicht als Wirkung des Meidens der Sünde zustande. Wäre es so, dann würde der Mensch Gott zwingen, wenn er eben die Sünde meidet, aus eigener Kraft gewissermaßen, ihm die Gnade zu geben. Nein, sondern wenn Gott die Gnade gibt, dann nicht, weil der Mensch die Sünde meidet, sondern weil er kraft seines allgemeinen Heilswillens einem jeden die Gnade geben will. Was die Molinisten annehmen, das ist eine sogenannte negative Disposition, das Meiden der Sünde, keine positive. Ihre Erklärung hebt also die Erklärungen des Konzils von Orange nicht aus den Angeln.

Nun, meine lieben Freunde, wir wollen aus diesen nicht ganz leicht zu vollziehenden, aber wichtigen Gedankengängen eine Folgerung ziehen, nämlich: Wir müssen in der Gnade leben, wir müssen mit der Gnade wirken. Wir müssen aber auch wissen, daß alles, Gnade um Gnade, aus dem unerschöpflichen Born der Barmherzigkeit Gottes kommt. Wir wollen uns bemühen, nicht aus der Gnade herauszufallen, sondern mit der Gnade zu wirken, solange wir wirken können. Wir wollen flehen mit der Kirche: „O Gott, komm meinem Tun mit deinen Eingebungen zuvor und begleite es mit deiner Hilfe, damit all mein Denken und Handeln stets von dir seinen Ausgang nehme und durch dich seine Vollendung finde.“

Amen.

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